Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
könnten die Jugend »brutalisieren«. Über die Auswirkung eines Aufenthalts in Konzentrationslagern auf Jugendliche hat die Regierung sich bei dieser Gelegenheit nicht geäußert.
Erklären Sie uns das. Es sind doch Ihre Landsleute, Mrs. Cresspahl. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.
Es ist der Tag, an dem der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in der New York Review of Books einen Offenen Brief veröffentlicht, »Über das Verlassen Amerikas«. Erklären Sie uns das, Mrs. Cresspahl. Sie sind doch eine von den Deutschen. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.
Herr Enzensberger hat an den Präsidenten der Wesleyan University öffentlich geschrieben, daß er als Stipendiat beim dortigen Institut für fortgeschrittene Studien zurücktritt, und er beginnt mit grundsätzlichen Erwägungen.
Er bekennt öffentlich, daß die herrschende Klasse in den Vereinigten Staaten von Amerika (die Regierung eingeschlossen) in seinen Augen die gefährlichste Gruppe von Menschen auf Erden ist. The most dangerous body of men on earth. So hat es auch Paul Goodman im vorigen Oktober in einer Rede vor Rüstungsindustriellen gesagt: Sie sind, gegenwärtig, die gefährlichste Gruppe von Menschen in der Welt. Body of men. Wer wird denn pingelig sein wegen eines Zitats. In der Welt; es klingt so alltäglich. Nein: auf Erden. Feierlich, nachhallend. Biblisch allemal. Auf Erden.
Weil Herrn Enzensberger dies vor drei Monaten noch nicht bekannt war, will er das Land nach drei Monaten öffentlich verlassen.
Von vielen Amerikanern weiß der Westdeutsche, daß die Lage ihrer Nation sie beunruhigt. Wenn Mr. Gallup sich unter die Nation mischt, mag er viele Leute befragen können; wie viele Amerikaner hat der Westdeutsche kennen lernen können in zwölf Wochen? Zu welcher Klasse gehören sie?
Sein Ergebnis entspricht im übrigen dem Gallup-Bericht von gestern. Viel Kenntnisse setzt er nicht voraus bei denen, an die er schreibt.
Nur daß eben viele Amerikaner ihm gesagt haben, die Krisen des Landes, der unerklärte Krieg in Viet Nam nicht zuletzt, seien Zufälle, Ungeschicklichkeiten, tragische Irrtümer. Dieser Ausdeutung kann Herr Enzensberger sich nicht anschließen. Offensichtlich nimmt das Offensichtliche zu an Offensichtlichkeit, wenn ein Enzensberger es sagt.
Die herrschende Klasse der U. S. A. habe so viele Länder verdorben; niemand könne sich noch sicher fühlen, weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten selbst. Es ist das Gegenteil davon nicht behauptet worden. Aber so kann er uns wenigstens mitteilen, daß er das Bedürfnis hat, sich sicher zu fühlen.
Herr Enzensberger gibt zu, daß er unsere Zeit verschwendet hat mit seinen Wahrheiten; er möchte es nun aber noch in einer wissenschaftlichen Manier tun. Er habe keinen Raum.
Es ist ganz hübsch grausam von der New York Review of Books, ihm den ausreichenden Zeilenraum zu verweigern. Dem Herausgeber der Zeitschrift Kursbuch, Herrn Hans Magnus Enzensberger, kann nicht ausgiebig genug die Grausamkeit verdacht werden, mit der er den Wahrheiten Herrn Enzensbergers seine Seiten versperrt.
Obendrein haben bereits andere diese Wahrheiten ausgiebig besorgt; Herr Enzensberger bemerkt es selbst. Er nennt die Namen dieser amerikanischen Gelehrten; er macht dem Publikum der New York Review of Books Vorschläge zur Lektüre. Es scheint, als habe es nach seiner Meinung noch einiges nachzuholen. Baran und Sweezy, in der Tat.
Die Arbeiten der anderen für das, wozu Herrn Enzensberger der Raum fehlt, gelten in der hiesigen Gelehrtenwelt als nicht erheblich, altmodisch, langweilig, rhetorisch; so ist es ihm gesagt worden, und wenigstens das will er in Ordnung bringen.
Er spricht von unserer Gesellschaft. Sie habe die alten Tabuwörter freigegeben, die uralten und unentbehrlichen Wörter mit den vier Buchstaben, fuck und shit und piss. Die ganze Gesellschaft hat es beschlossen, und Herr Enzensberger war dabei.
Nun gebe es noch eine andere Gesellschaft, die gebildete. Dort hat Herr Enzensberger seine 98 Millionen Amerikaner kennen gelernt. Die haben unter allgemeiner Zustimmung andere Worte mit dem Bann belegt. Ausbeutung und Imperialismus, das hat in der gebildeten Gesellschaft Herrn Enzensbergers einen Ruch von Obszönität. Freilich, wenn man so unter sich ist. Wer aber das Wort für ein Problem abschaffe, hat das Problem noch lange nicht aus der Welt. Wie wahr.
Herr Enzensberger wendet sich nun gegen die Auffassung, daß Bankpräsidenten, Generäle und
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