Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hatte; er hatte nur zwei Reihen nicht geschafft. In seinem Schreibtisch fanden sich Listen, in denen der gesamte Haushalt inventarisiert war, mit einer Spalte für die künftigen Besitzer, die vollständig ausgefüllt war. Die Schwester von Geesche Helms, die nun mehr als zwölf Jahre für ihn gearbeitet hatte, bekam das sämtliche Kollmorgensche Geschirr, auch Möbelstücke. Das nicht Verschenkte sollte als Geld an die Universität Erlangen gehen, ebenso die Bibliothek. Zu der Bibliothek gab es eine Kartei. Schriftstücke persönlicher Art hatte Dr. Kollmorgen beseitigt; von sich wollte er nichts hinterlassen als das Geheimnis Avenarius. In der offenen Schreibtischschublade fand Ilse wie angekündigt das Blatt mit den Anweisungen für den Fall seines Todes, von den Gängen zu Dr. Berling und zu Swenson bis zu den Vorschriften für die Beerdigung. Er verabschiedete sich bei einigen Leuten mit altmodischen Drucksachen, aber er brauchte sie nicht, denn es war alles im voraus eingerichtet und bezahlt. »Mitwirkung der Kirche verbeten« stand da in sorgfältig verwickelter Schrift. Darin, und in den umsichtigen Anstalten war noch einmal Dr. Kollmorgens Stimme zu hören, jetzt nicht mehr behaglich dozierend sondern mürrisch, enttäuscht, nicht ohne Verachtung. Am Ende war ihm doch nicht recht gewesen, daß die Stadt ihm das Bedürfnis nach Alleinsein erfüllt hatte. Es waren nicht viele Leute, die an einem Morgen in seinen Salon kamen, um ihn noch einmal zu sehen. Er war im Leben klein gewesen, den Kindern hatte das Lachen verboten werden müssen; im Sarg sah er gewichtig aus, und respektheischend. Er war gekleidet wie zu einer Gesellschaft in verschollener Zeit, hatte die Arme seitwärts als stünde er, ein Beobachter, ein Prüfender. Um die Augen herum sah er weicher aus, nicht viel anders als schlafend. Fast achtzig Jahre war er alt geworden. Swenson sah mehrmals herein, aber die Trauergäste standen weiterhin um Kollmorgen her, nicht ungeduldig, feierlich flüsternd, als hätten sie nun alle versäumten Besuche nachzuholen. Dann, am offenen Grab, sagte ein Rechtsanwalt aus Hamburg etwas Lateinisches auf, was die jerichower Trauergäste nicht verstanden, und von ihnen mochte Keiner etwas sagen. Es war Avenarius’ Sache gewesen, allein zu leben und zu sterben.
Ilse hatte die Übermachung des Geschirrs verstanden als einen Hinweis von Kollmorgen, nun doch einen Mann zu nehmen, und heiratete im Herbst 1942 einen Fischer in Rande, der fünf Jahre auf sie gewartet hatte. Ilse Grossjohann hieß sie nun, eine sehr angesehene Hausfrau, beneidet wegen ihrer Ausstattung. Wenn sie nun nach Jerichow zum Einkaufen kam, hatte sie nicht mehr das Gesicht eines Mädchens, das sich hilflos wundert.
Für Gesine Cresspahl war ein versiegeltes Päckchen abgegeben, »mit Komplimenten zum 3. März 1954«.
Weil Avenarius unter der Erde war, mußte Cresspahl im November 1942 mit einem Brief zu Dr. Kliefoth. Es war ein französischer Brief, abgestempelt in Leipzig, in der Handschrift Dora Semigs. »Chers amis«, das ahnte Cresspahl noch. Und es war eilig.
Er ging nicht gern zu Kliefoth. Er war ein Malchower, ein Klattenpüker; er war einer von den Gebildeten. Er hatte in England gelebt, aber an Universitäten. Den Ersten Weltkrieg hatten sie gemeinsam, aber 1918 war Kliefoth längst Leutnant gewesen. Er hatte bis zuletzt französische und englische Zeitungen abonniert, alle acht Wochen aus anderem Departement und neuer Grafschaft, aber zum Krieg gegen Frankreich hatte er sich sofort gemeldet, nachdem sie ihn gegen die Polen nicht genommen hatten, wegen der Flecken in seiner berliner Karteikarte. Seitdem war er immer dabei gewesen, zuletzt als Ic unter Baudissin, bis sie ihn nun wegen Erreichens der Altersgrenze nach Hause entlassen hatten, und solange er über der Sowjetunion seine Aufklärungsflüge machte, hatte seine Frau für ihn die Hakenkreuzfahne herausgehängt. Cresspahl fand es nicht leicht, den Mann in Eile herauszukriegen.
Der Abend dauerte sehr lange, fast bis Mitternacht. Kliefoth kam an seine Tür in voller Uniform, bat den Tischler herein mit lässiger Höflichkeit, an der nicht zu zweifeln war, sah den anderen zögern, fing ohne Umstände an und gab sich zu erkennen.
Kliefoth sagte in einem unverändert: Heer. Das Heer, als gelte sonst nichts.
Sie hatten bald einen Abschnitt der Russenfront gefunden, an dem sie 1916 zur gleichen Zeit gewesen sein mochten.
Cresspahl mochte sich nicht entschließen.
Kliefoth erzählte
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