Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vom Hohen Ufer zu sehen, das von Warnemünde oder das von Poel war.
Dann erzählte Alexander Paepcke etwas ungenau von der Zivilverwaltung der besetzten Gebiete Frankreichs. Der Urlauberzug Berlin-Paris stand ihm ungemütlich bevor, und der ausgewachsene Mensch seufzte, als er einen kleinen Lederkoffer anbrachte, den die Kinder bisher nicht bemerkt hatten. In dem Koffer war ein Kepi für Paepcke junior. Christine bekam eine Trachtenpuppe aus der Bretagne, mit der sie dann schlief, solange sie noch lebte. Für Alexandra war ein Puppengeschirr, außen golden. Für Klaus Niebuhr fiel ein Lineal mit französischer Beschriftung ab, und den Koffer, ein großmannsmäßiges Spielzeug, sollte Gesine haben. Und was bekam des Soldaten Weib? Die Kinder waren fast verstört, daß es nun auch noch zu Alexanders Abreise Geschenke gab, und Alexander in seinem Vergnügen an ihrer Freude sagte leichthin, namentlich von dem Puppengeschirr: Hab ich aus einem Hotel mitgenommen. Das Gold war eine sehr überzeugende Farbe, und seine Tochter fragte entsetzt: Geht denn das? Paepcke sagte breit und genußvoll: Jåå; wurde sich Cresspahls Blick bewußt und setzte hinzu, geniert und ganz Major der Reserve: Du dat hev ick betålt du!
Einmal fragte Hilde versehentlich nach der Bombennacht von Lübeck. Cresspahl hielt sich heraus damit, daß er in Wendisch Burg gewesen war.
Er sagte aber, was sich in Jerichow als Erzählung hielt: Es habe ausgesehen wie ein friedliches Feuer in der hellen Nacht. Zum Glück sei es so laut gewesen, trotz der 25 Kilometer Entfernung.
Und wieder hatte Gesine die Wahl. Sie konnte in Althagen noch bleiben. Die mecklenburgischen Schulferien endeten am 1. September, und sie konnte bis dahin mit den Paepckes nach Pommern. Cresspahl sah sie gar nicht an, hielt die Hand über die Augen, suchte die abendliche See nach etwas ab. Sie blickte an ihm empor, konnte sein Gesicht kaum erkennen, sagte ohne Überlegung: Ick will mit na Jerichow. Næm mi mit.
Ein Glück, daß das Feuer in Lübeck so laut war?
Die Bomben, Gesine. So konnte einer sich weniger vorstellen. Das nahm der Lärm weg.
18. März, 1968 Montag
Liebe Marie. Dies erzähle ich deinem Tonband, damit du es doch glauben mußt.
»Der alte Gammler mit den ausgefransten braunen Tüten hat sich rasiert und sieht nun aus wie ein gewöhnlicher jüdischer Mann.«
So hast du gesagt. Ich soll doch Nachrichten haben von der Nachbarschaft, die ich tagsüber versäume.
Er ist nicht ein Gammler; er bettelt. Er gehört zu denen, denen ich gebe. Ich sollte nicht geben.
Erinnere dich an die Bettler in der Subway. In den lockeren Verkehrsstunden, vor Mittag auf der Westseitenbahn, nachmittags auf der Linie unter der Avenue Lexington, fährt ein etwa dreißigjähriger Mann, ein Gefärbter, der Niemandem in die Augen blicken kann, vielleicht einer Krankheit wegen. Er bewegt sich benommen und taumelnd, bleibt gegen die Tür gelehnt, wie er gegen sie gefallen ist, hält sich an den Stangen oder Haltegriffen fest wie drangehängt, und singt. Es sind jaulende Tonfolgen, aus denen Wortähnliches nur gelegentlich zu hören ist, und nicht verständlich. Immer sehr plötzlich bricht er die Vorführung ab, hält sich ein Schild vor den Bauch, das er doch achtsam unterm Arm hatte, und tritt mit einem kleinen Blechnapf sehr dicht an die sitzenden Fahrgäste heran, will den Lohn für die Musik kassieren. Seine ordentlichen lila Druckbuchstaben beginnen mit den Worten: My mother has multiple sclerosis -, alles ohne Fehler, geschrieben wie ein ärztlicher Befund.
Ein anderer, auch ein Gefärbter, um die Fünfzig, und wirklich blind, eine blaue Mütze auf dem Kopf, tastet sich mit weißem Stock durch die Wagen und hält seinen Becher sehr dicht am Leib, gibt nicht zu erkennen, ob er das Aufklirren einer Münze gehört hat.
Die Vorschrift lautet: Da Caritas, im Kleinen, und Reform, im Großen, nicht Funktionen sind in der Berichtigung oder Veränderung der Gesellschaft, haben sie als Sentimentalität und Verschwendung zu unterbleiben.
Gelegentlich wird ihnen gegeben. Schwarze greifen in die Tasche und wollen Solidarität darstellen, oder daß es Gefärbte gibt, die Geld haben wie gewöhnliche Menschen. Rosahäutige Hausfrauen sind imstande, die Gabe nicht nur zu verweigern, sondern sich selbst zu inszenieren als anständige Bürger, die dergleichen gottlob nicht nötig haben und überhaupt mit sauer (ehrlich) erarbeitetem Lohn über die Runden kommen müssen. Manche Herren, wenn sie
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