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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Büroanzüge und Schlipse tragen, fühlen an den Blicken anderer Fahrgäste, daß sie eher dran wären, und fügen sich dem allgemeinen Urteil. Die Verachtung, die Gegenwehr sein soll, trifft den Nehmenden. Unbefangen ist keiner.
    Es gibt Blicke hin und her. Sie bedeuten Spott für einen, der sich so leicht ausnehmen läßt; Verachtung für den, der mit einem Vierteldollar angibt, wo zehn Cent der Form Genüge getan hätten; ein Urteil über die schwarze Rasse, die also doch Geld hat.
    Marie, ich wäre gern gleichmütig; gäbe und vergäße.
    Hinzu kommt das Mißtrauen gegen die Bittenden. Sie sind zu oft zu sehen in den Ubahnen, als hätten sie da ein Amt. Wie sie sich unter der Stadt in den fahrenden Zügen voranarbeiten, es hat etwas Berufsmäßiges. Sie können leben von ihren Einnahmen; manchmal könnte ein Überschuß reichen zum Genuß. Dazu sind sie zu krank, zu kaputt. Sie mögen sich haben fallen lassen aus der Gesellschaft; warum nutzen sie die dürftigen Notvorrichtungen nicht aus? Sind sie auf diesen Erwerb aus eigener Überlegung gekommen; sind sie nicht vielleicht doch geschickt von einem Soldaten oder Unterführer der Mafia, der die Tageskasse mit nichts honoriert als einem Platz zum Schlafen? Sind sie genügend ausgewiesen durch den erbärmlichen Entschluß, sich dem Erbarmen Fremder auszuliefern?
    Die, die ich war, hat einmal einem alten Mann sehr langsam und verlegen die Tür vor der Nase zugemacht, ehe er die Sache mit seinem Mittagessen noch hatte erklären können. Das war in Sachsen, als ich studierte und noch von der Schule her glaubte, daß es in einem fast schon sozialistischen Staat Bettler nicht gibt.
    In der Subway habe ich die Hand schon in der Tasche, wenn die Bettler noch vier Schritt von mir sind. Ich gebe keine Vierteldollars, nicht einmal Zehner; ich kenne die Vorschriften.
    Aber ich lasse eine Ubahnmünze in den Becher fallen, damit sie immerhin fahren können.
    Du wirst von mir sagen können: Meine Mutter war eine ziemlich unordentliche Person.
    Was du jetzt hörst, ist noch einmal Regen.
    Wäre aber gern ordentlich gewesen, unbeeinflußt von Biographie und Vergangenheit, mit richtigem Leben, in einer richtigen Zeit, mit den richtigen Leuten, zu einem richtigen Zweck. Ich kenne die Vorschriften.
    »Der alte Gammler mit den ausgefransten braunen Tüten hat sich rasiert und sieht nun aus wie ein gewöhnlicher jüdischer Mann.« Danke dir auch für die Nachricht.

19. März, 1968 Dienstag
    Die Kommunisten in der Č. S. S. R. mögen und mögen nicht ihren Antonín Novotný mit Gewalt loswerden. Sie erwähnen ihn in der Parteizeitung als schlichten Herrn statt Genossen, sie lassen ihn nicht beim Fernsehen auftreten, aber das Zurücktreten soll er selbst besorgen.
    Robert F. Kennedy hat gestern begonnen, sich um die Kandidatur für das Präsidentenamt zu kümmern, indem er die Politik des Amtierenden Präsidenten in Viet Nam als bankrott bezeichnete. Dann sagte er doch zu Universitätsstudenten in Kansas: Ich werde für euch arbeiten, und wir werden ein neues Amerika haben.
    Vergessen Sie nicht, daß morgen früh um 8 : 22 Uhr amtlich der Frühling beginnt!
    Im Juni 1942 wurde Dr. Avenarius Kollmorgen, niedergelassenem Rechtsanwalt in Jerichow, das Leben zuwider, und er gab es auf.
    Nicht früher wurde bekannt in Jerichow, womit er seine letzten Jahre verbracht hatte. Seine Praxis war seit 1935 endgültig geschlossen. Danach war er noch gesehen worden auf Spaziergängen rund um die Stadt, aber er hatte Wege bevorzugt, auf denen er vor Begegnungen sicher war. Wer von ihm noch einmal die Frage hören wollte, ob Einer gut bei Sach sei, war auf einen peinlich gestörten Menschen getroffen, der ungeduldig hin trat und her, auf das Ende der Unterhaltung aus, und nicht einmal mehr hatte er sich auf die Zehenspitzen gehoben und mit ernsthaft glänzendem Blick Lehrmeinungen mitgeteilt. Anfangs hatte er die Gänge für seine Gesundheit vor dem Mittagessen besorgt, 1941 schon danach, bis er mit der Übung kurz vor die Dunkelheit geraten war und sie aufgab. Das Licht in seinen Fenstern war aber immer länger in der Nacht auf den Markt gesickert, das und langsame Schattenbewegungen darin hatten geschäftig ausgesehen. In den Nächten hatte Avenarius sich auf seinen Tod vorbereitet. Die meisten Bücher standen in den Regalen nicht mehr mit dem Rücken nach vorn, sondern lagen in kantengleichen Stapeln, zum Verpacken fertig. In denen allen stand das Datum, an dem er sie zum letzten Mal gelesen

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