Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Gewissen liegen, geht man schlicht in ein anderes.
Es gibt auch Kritiker des Krieges im Range eines ehemaligen Marinebefehlshabers. General David M. Shoup schätzt, daß allein zur Verteidigung der Bevölkerungszentren in Süd-Viet Nam bis zu 800 000 amerikanische Soldaten von Nöten sind. Einen Sieg könnten die U. S. A. nur mit einer Invasion des Nordens erreichen. Der Krieg sei die Kosten nicht wert.
Die Schule in Jerichow hatte Cresspahls Kind so weit, daß sie im November 1942 den Volksempfänger neben ihren Schularbeiten her flüstern ließ und die Lautstärke weit aufdrehte nach jeder Siegesfanfare, die eine »Sondermeldung« verhieß. Sie wartete darauf, daß die Sowjets ihr Stalingrad verloren. Einmal wollte sie die Sache entschieden wissen, zum anderen war sie auf der Seite der deutschen Truppen. Cresspahl hatte seine Gründe, ihr die Biographie des Reichsluftmarschalls Göring zu schenken oder Bücher wie »Stukas«, »Mölders und seine Männer«; das Kind sollte in der Schule harmlose Begeisterung für die deutschen Waffen zeigen, insbesondere für die Luftwaffe: Cresspahl bekam seine Mimikry. Das Kind bekam seine Verletzungen. (Cresspahl tröstete sich mit der Hoffnung auf ein Ende des Krieges im Frühjahr 1943.)
Die Schule in Jerichow hatte damals acht Klassen. Nach der vierten Klasse wurden die Kinder getrennt in solche, die bloß der gesetzlichen Schulpflicht gehorchen sollten, und jene, deren Eltern sie aufs Lyzeum und Gymnasium in Gneez schicken konnten. Gesine wußte nicht, daß sie von 1943 an nach Gneez sollte und hatte sich in die Hermann Göring-Schule ergeben wie in eine Heimat, in das Zuhause von Jerichow.
Direktor der Schule war Franz Gefeller, Sudetendeutscher, Henleinputschist, Parteiredner im Landkreis Gneez. Er hatte herausgefunden, daß er fast im ganzen Gesicht aussah wie der Reichspropagandaminister Goebbels, wenn er den Mund nach hinten zog; insbesondere beim Strafen von Kindern benutzte er diese Miene. In normaler Verfassung konnte man ihn für einen eingebildeten kleinwüchsigen Mann halten. Beim Schreien kam er leicht ins Fisteln. Wenn er die Hand zum deutschen Gruß der Nazis hochreckte, schien sie unverhofft zu kurz.
Du bist ein doitsches Kind,
so denke stets daran,
was dir der Feind
in Wersaljes angetan!
Im ersten Jahr, als sie die alte deutsche Schrift lernte, war Gesines Lehrer Prrr Hallier, und sie konnte nicht zweifeln, daß sein Unterricht so war wie Schule. Das Lernen fing erst an, nachdem seine Klasse das Hinsetzen und Aufstehen auf einen Schlag gedrillt hatte. Wer nachklappte, kam als erster dran. Er war einer von denen, »die sie nicht genommen hatten«. Unter dem Bild Hitlers hatte er ein Brett mit Vase angebracht, und das Beschaffen von frischen Blumen für den Götzen galt als Auszeichnung. Er litt darunter, daß die Bekanntschaften in einer kleinen Stadt langsam anfangen, und sagte sich oft zu Besuchen an. Gesine hatte ihn für »ihren« Lehrer gehalten, und sie glaubte sich verraten, als sie bei seiner ersten Unterredung mit Cresspahl nicht dabei sein durfte. Prrr hieß er, weil er ein Kind unterbrach wie man ein Pferd anhält. Die Zeugnisse verteilte er auf dem sandigen Hof vor der Schule, nachdem die Kinder angetreten waren und gesungen hatten. Er verriet das Cresspahlsche Kind noch einmal, indem er ihr für Betragen nicht die beste Zensur gab, und nie hatte er sie auf Unarten hingewiesen. Hatte sie ein Schuljahr lang beobachtet, nie gewarnt, und in die Falle gestoßen. Dann nahmen »sie« ihn doch, und im Juni 1940 war er totgeschossen.
Auch Cresspahl war betroffen von der 2 für Betragen. Es wirkte sogar bei ihm, daß Kinder durch Emsigkeit in diesem Lehrfach fürs spätere Leben und Gehorchen stramm gehalten werden sollten.
Dann kam Olsching Lafrantz, stolz auf den Nachnamen, erbittert über den, den die Kinder ihr angehängt hatten, denn sie hielt sich für heiratsfähig, weil sie ihr Haar noch mit vierzig Jahren rot nennen konnte. Sommersprossig, hager, den Gouvernanten in Büchern ähnlich. Sie war für Gesine nun nicht mehr bloß die Schule, sondern sie selbst, und sie stieß mit ihr zusammen. Olsching Lafrantz war gekränkt, daß das Kind Cresspahl auffiel; das Kind war gekränkt, weil es nicht auffallen durfte. Indem es sich bewegte, aufstand ohne gefragt zu sein, Widerworte gab, wollte es doch der Lehrerin sich zeigen. Bei Frau Lafrantz wurden zur Anschaulichkeit im Rechenunterricht S. A.-Kolonnen in Dreierreihen und Sechsergruppen
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