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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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benutzt. Sie führte die lateinische Schrift statt der deutschen ein mit der Begründung, daß die Deutschen so schreiben sollten wie das Weltreich, das sie erobern würden. (»Damit die Völker die Befehle unseres Führers verstehen.«) Sie war eine gutmütige Person, die klagen konnte, als sei sie gehetzt von etwas. Gesine Cresspahl begriff nicht, daß sie die Kinder eine Last nennen konnte. Betragen: Zwei.
    In der dritten Klasse geriet die Schülerin Cresspahl in die erste Verwirrung. Da fiel ihr ein Junge namens Gabriel Manfras auf, weil er nicht sprechen mochte. Auch sein Gesicht war verschwiegen, slawisch in den Backenknochen, schlitzig um die Augen. Wenn aber die Lehrerin es wollte, sprach er. Diesem Kind wollte das Cresspahlsche sich bemerkbar machen und schaukelte zwischen zwei Tischen auf festgestemmten Armen, bis ihr der Schuh vom Fuß rutschte. Sie holte ihn von der Tafel zurück, bat die anderen Kinder um ihre Aufmerksamkeit und wiederholte das Kunststück. Diesmal flog er durchs Fenster, in einem unbegreiflichen Schlenker nach links. Es war in der Pause, und unverzüglich war es völlig still. Damals waren die Kinder bis zum innigen Schreck eingeschüchtert von der Hierarchie, die mit dem Lehrer anfing und mit Adolf Hitler ihre Spitze zeigte, und manche kamen obendrein aus bäuerlichen Familien. Manfras war unter den meist Erschrockenen. Ein solches Verbrechen hatte Olsching Lafrantz noch nie erleben müssen. Sie traute sich nicht einmal, es zu ahnden. Die Schülerin Cresspahl wurde zum Direktor geschickt.
    Sie fand es ungerecht, daß sie bestraft werden sollte für ein Versehen. Für eine absichtliche Auflehnung gegen die Regeln hätte sie einstehen wollen. Sie ging aus der Schule, mit einem Schuh am Bein, holte sich den anderen aus dem Schnee und rannte zur einzigen öffentlichen Telefonzelle auf dem Markt, Cresspahl anzurufen. Daß Gefeller seine getönte Brille abnehmen sollte und sie mit seinen angespannten schwarzen Augen ansehen, es war als Strafe unverdient. Die Anklage lautete nach Olsching Lafrantz auf Beschädigung staatlichen Eigentums und auf Verschwendung kriegswichtiger Vorräte wie Glas und Heizmaterial. Cresspahl beorderte sie zum Flugplatz, behob abends den Schaden mit Glas aus seinem Kellervorrat und nahm sie zu der Unterredung mit Olsching Lafrantz nicht mit. Betragen (gequält): Zwei.
    Der nächste Lehrer war Ottje Stoffregen. Er nahm inzwischen hin, was Jerichow aus seinem Vornamen gemacht hatte, hatte sich abgefunden mit der Einstellung der mecklenburgischen Heimatzeitschriften durch die Nazis, hielt sich für weise. Wenn er sich aufraffte zu Gegenwehr, so war es das Üben der alten deutschen Schrift, »damit ihr die Briefe eurer Großeltern lesen könnt«. In und um Jerichow gab es nicht viele Großeltern, die Briefe schrieben. Ottje Stoffregen schlug. Wer zu spät kam, mußte langsam an ihm vorbeigehen, und mindestens dreimal tippte Ottje mit seinem Stock schmerzhaft auf die weiche Stelle zwischen Hals und Schulter. Beim ersten Mal sagte das Kind Cresspahl sofort, es habe nicht weh getan, um die Schande vor den anderen Kindern zu verringern, und Ottje wiederholte die Feier. Ottje vergaß nicht, daß dies das Kind Lisbeths war, der er mit Gedichten und Briefen die Heirat angetragen hatte, bis er lächerlich war in ganz Jerichow; er betrug sich gegen das Kind in einem Wechsel von Strenge und Nachsicht. Der Alkohol hatte ihn anfällig gemacht für Wehmut, und er konnte das Kind ansehen, als habe er Tränen in den Augenwinkeln. Jähzornig war er auch geworden, und er konnte das Cresspahlsche Heft vom Pult aus bis an die Rückwand des Raums schleudern, über alle vier Tischreihen hinweg. Das Kind hatte geschrieben »Bessere Beizeiten«. Stoffregen vergaß nicht, daß von Rechts wegen er Rektor hätte werden sollen, nicht der »fremdstämmige Beutedeutsche« Gefeller, aber er hielt sich an dessen Erlasse, und wenn der zwei Stunden um elf Uhr ansetzte und nach einer Pause noch einmal Handarbeit für die Mädchen um zwei. Dann fehlte das Cresspahlsche Kind, und brachte solche Entschuldigungen von Cresspahl wie »Mein Kind mußte essen« und ob Stoffregen etwa die Tischzeiten im Kasino des Fliegerhorstes ändern wolle? Cresspahl wußte von Stoffregens Bewerbung um Lisbeth nur ungefähr, eben weil sie ihn angegangen wäre; Stoffregen empfand Cresspahls Zettel als abgründigen Hohn. Stoffregen zog über Cresspahls Kind her in einer Art, die er bei sich »ätzend« nannte, und sprach von

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