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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Unterarzt am Krankenhaus St. Lukas und gehörte zu den Leuten, die die Gräfin Seydlitz hilflosen Europäern empfiehlt, wenn sie ein humpelndes Kind haben.
    Die Angestellte Cresspahl hatte in der letzten Zeit vor dem unwiderruflichen Antritt der Arbeit mit ihrem Kind einen Tag am Atlantik verbracht, an der Midland Beach von Staten Island, um das Kind über die Fremde zu trösten, und schon auf dem Rückweg von der Untergrundbahn lahmte das Kind ein wenig. Am nächsten Vormittag humpelte sie.
    Sie tat es recht geduldig, war noch nicht vier Jahre alt und knickte ein so geschickt wie eine alte Frau, trat fest auf, knickte ein, sorgfältig darauf bedacht, mit ihrer Hand in meiner Hand nicht zu viel zu verraten.
    Sie saß auf einer Bank im Riverside Park, friedlich und müde unter den sommerlich ausgeleuchteten Bäumen und wollte den Fuß nicht zeigen. Sie stritt Schmerzen ab.
    Auf einer Fotografie von damals sieht sie heute verschmitzt aus, selbstsicher. Sie hatte damals Angst. Das kleine dickliche Gesicht von 1961, die verkniffenen Augen, die hilflosen Lippen, es fiel passierenden Spaziergängern auf als eine Spur von Gefahr. Sie trug das Haar kurz zu jener Zeit, eben ungefähr geschnitten, und genug Großmütter im Park hatten Lust, einmal hineinzufassen in das weißliche verwehte Gewusel. Marie hatte ihren Kopf hinter dem Rücken der Mutter, ehe sie noch den Ansatz solcher Zudringlichkeiten erkannt hatte.
    An ihrem Fuß aber war nichts zu sehen. Von den acht Millionen Menschen in New York kannte die Angestellte Cresspahl vielleicht fünf. Mit ihrer Art von Englisch traute sie sich kaum zur Bank, geschweige denn zwischen einem fremdsprachigen Kind und einem Arzt zu dolmetschen. Die freundliche Geselligkeit von Parkbank zu Parkbank, die exotischen Büsche und Bäume, sogar das Bewußtsein von Sommerwind, Flußnähe, Ferien, alles stellte nun eine feindselige Gegend her. Damals fing es an: Marie sähe einen Augenblick Unsicherheit bei der Mutter, und sie würde ein Leben hier nicht einmal sich vornehmen.
    Marie mit ihren Ausreden hatte sich schützen wollen vor einem Arzt wie dem in Düsseldorf, der Bärbeißigkeit für vertrauenswürdige Herzlichkeit hielt, und nun einem in New York. Sie geriet im Sankt Lukas aber an einen Herrn, der seine unverhofften Kunden eher befangen einließ. Einmal sein Gesicht mit den Worten thüringisch und Wandervogel verglichen, sie waren nicht wieder aus dem Anblick wegzudenken. Er sah nicht aus nach summa cum laude, eher nach einem bäuerlichen Elternhaus, ein Junge, dem das Lernen schwer gefallen ist und der noch jetzt in abwesendem Blick das Pensum repetiert. Aber Dr. Brewster fiel gar nichts schwer, und auswendig wußte er seine Sache auch. Er nahm Maries rechte Hand. Sie verweigerte sie ihm nicht; die Sitte war ihr als unausweichlich bekannt. Er nahm ihre linke Hand, ernsthaft, ganz neu mit Förmlichkeit beginnend. Sie fand es anrechnenswert, daß ihm beide Hände recht waren. Er nahm den heilen Fuß. Beim Humpelfuß hatte sie eingesehen, daß er so unbekleidet sein mußte wie die Hand. Er hatte sie neugierig gemacht. Damals war ich fröhlich. Damals war Frieden noch zu sehen.
    Marie besah sich den Fußballen, in dem dieser Mensch ohne Brille und weißen Kittel solche schwarzen Punkte gefunden hatte, und die Ausländerin Cresspahl fürchtete sich vor ihrem Vorurteil gegen die amerikanische Medizin, das sie nun an der Reihe glaubte. Aber Dr. Brewster brachte aus dem Nebengelaß nicht eine Injektionsspritze mit sondern einen Gazelappen, den er selber anfeuchten konnte, ohne die Schwestern zu rufen. Es waren Großmutterratschläge, so zuverlässig gegeben: der Fuß müsse feucht gehalten werden. Das hätte Berta Cresspahl auch gesagt.
    Und Dr. Brewster wußte noch mehr, als er hatte lernen müssen. Er vergewisserte sich, daß das Kind ausreichend mit dem Systemspielzeug am Fenster beschäftigt war, und fragte dann die Mutter, die ihr Kind von Beruf wie Natur her nicht eben bereitwillig blöd oder häßlich nennen möchte, sie fragte er: Ein aufgewecktes Kind, Mrs …?
    Die Mutter wußte da nichts zu sagen.
    Er sah dem Kind noch eine Weile beim Stecken oder Umstecken der hölzernen Hohlfiguren zu, ganz müßig mit den Händen im Schoß, und stellte fest wie einen endgültigen Befund, ernsthaft, sehr spöttisch: Denke doch. Aufgeweckt.
    Das kostete zehn Dollar, und er hatte uns so fest am Haken, wir kamen wieder. Er wußte dann obendrein den Namen. Der Fuß war nach drei Tagen, wie er sein

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