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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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sollte. Er wollte das nicht am Telefon hören, er wollte das sehen. Diesmal gab Marie ihm ihre linke Hand zuerst, um ihn auszuprobieren. Er nahm sie mit seiner Linken, und sie reichte ihm den Humpelfuß zuerst. Sie konnte seinen Namen noch nicht aussprechen, und brachte es zu nicht mehr als Ärger, als er die Tetanusspritze in hohler Hand aus der Tasche in ihren Oberschenkel schlüpfen ließ. Sie wollte eben zum Schreien den Mund öffnen, als er schon auf sie einsprach und sie vorzog, ihm zuzuhören. Er hatte auf keiner der Impfungen bestanden, die unser Vorurteil ihm angelastet hatte; nur ein Leben in New York ohne Tetanusimmunisierung, das hielt er für nicht ratenswert. Marie sagte: Wenn er es will. Dann ja.
    Und wieder brachte er seine Kunden durch die Wartesäle und Treppenhäuser bis zum Ausgang auf die 113. Straße, jetzt Einbahnverkehr in westlicher Richtung, und blieb heimlich stehen im verschatteten Foyer und sah zu wie ein Spion, wie das Kind jetzt ging mit seinem Fuß. Er gab seine Arbeit aus dem Haus, nun machte er die Schluß-Inspektion.
    Dem liefen wir nach noch in die Praxis, die er sich später an der Park Avenue kaufte, und ließen uns weder durch das vornehme Wesen der Empfangsdame noch durch Miss Gibsons Zweifel an unserer Zahlungsfähigkeit abweisen. Wir hatten sogar gelernt, seine Art von Sprechen fast vollständig zu verstehen, den leisen Ton eben oberhalb des Flüsterns, die weggeatmeten Vokale; Marie kann so sprechen wie er, daß nur die Hauchlaute übrig bleiben, von adhesive nur das h, aber sie führt es nicht vor, sie ahmt ihn nur nach, zärtlich und spöttisch, wenn er in ihre Gedanken geraten ist. Den haben sie nach Viet Nam geholt, und ob er lebendig zurückkommt oder versehentlich von den eigenen Streitkräften bombardiert wird, es ist noch nicht entschieden. Wir haben ihn gebraucht für den Fall, daß uns Einer den Vorwurf macht, es sei nicht zu leben in New York. Thank you very much, doctor.
    Abends, als Marie die Killainenkinder in ihrem Zimmer zur Nacht versorgt hatte, fragte sie: Wie das denn wäre. Wenn ein Mensch, kein Soldat, eine Erlaubnis zum Betreten des Kriegsschauplatzes, was nicht glaubhaft sei, dennoch besitze, wie denn das wäre. Ein Flug nach Saigon, was der wohl koste.

23. Januar, 1968 Dienstag
    – Sind Sie die Dame, die hier vor zehn Minuten wegen des norddeutschen Osterwetters von 1938 angerufen hat? Crassfawn? Dann schreiben Sie mit:
    Flensburg
    17. 4.: 8 Grad Celsius, stürmischer Wind, Graupelschauer
    18. 4.: morgens - 1.5 Grad Celsius, höchste Tagestemperatur 7 Grad, Schneeschauer
    Putbus
    17. 4.: 5 Grad Celsius, nachts frostfrei, keine Niederschläge
    18. 4.: wie Vortag
    Königsberg
    17. 4.: 5 Grad Celsius, Schneedecke
    18. 4.: wie Vortag
    Über Wismar oder Stettin haben wir nichts; bekommen Sie gleichwohl ein überblicktes Bild? Es ist wunderbar von Ihnen, das zu sagen, Mrs. Cressawe. Die Rechnung geht an Apartment 204, 243 Riverside … ist das New York 25? Nein, gar nicht. Wissen Sie, ich habe dabei herausgefunden, daß der März 1938 der wärmste des Jahrhunderts in jenem Gebiete war; es ist gewiß nicht eines von den Dingen, die ich vergessen sollte. Ja. Sie sprachen mit Herbert H. Hayes. Der Dank ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Crissauer!
    So daß die Osterglocken, Märzbecher, Forsythien in Hilde Paepckes Garten wohl im Frost verreckt waren, und Laub nicht in Sicht, als die jüngere Schwester mit Mann und Kind aus Jerichow nach Podejuch zu Besuch kam. Einladungen zu Ostern 35, 36, 37 hatte Lisbeth abgetan wie etwas Lästiges; jetzt, mitten in solchen zweiten Winter hinein kam sie und hatte so darauf bestanden, daß Alexander Verabredungen mit Freunden aus dem Amt auflösen mußte. Was mochte daran sein, daß Lisbeth so unverstehbar geworden war, wie einer nach dem anderen aus Jerichow mitbrachte?
    Am Sonnabendmorgen kamen die Cresspahls mit dem Postauto in Gneez an, er mit einem hellen Lederkoffer, der unter den Säcken und Körben der anderen Fahrgäste auffiel, das Kind an seiner Seite mit einer Hand am Koffergriff, nicht bei der Mutter, die mit leeren Händen und ganz ohne Eifer auf den Bahnsteig hinterherstieg. Die drei nahmen nicht ein Abteil Dritter, sondern Zweiter in dem Schnellzug Hamburg-Stettin, der wenige Minuten nach zehn an Gneez-Ausbau vorbeifuhr. Kaum eine Viertelstunde später, und sie standen für drei Minuten oberhalb des Schweriner Sees und konnten nahe in dem kalten Wasser die nördliche Spitze der Insel Lieps sehen, nicht

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