Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
völlig kahl, sondern mit bräunlichem verfilzten Baumwerk bestanden. Hier hätten sie umsteigen können in die rostocker Strecke, und wären zu ihrer gewohnten Abendbrotszeit in Kopenhagen gewesen. Es war der Vater, der dem Kind solche Anschlüsse erklärte, und bei ihm blieb das Kind sitzen, geduldig und schweigsam unter seinem schwarzbraunen Hahnenkamm, der aussah wie von ihm selbst umgeschlagen und eingesteckt. Die beiden anderen Reisenden in dem Abteil, ein ältliches Ehepaar aus Hamburg, sahen gelegentlich heimlich auf die junge Frau, die den Kopf lehnen ließ, als sei sie von etwas erschöpft, oft die Augen schloß als sei sie damit auch vom Gehör befreit, und sonst ohne Neugier aus dem Fenster sah, um den Blicken nichts zu zeigen. Für Fremde sah das nach einem Ehestreit aus, und wieder nicht, wenn Lisbeth ihrem Kind und Cresspahl mit fürsorglichem und ermunterndem Lächeln einen Spaziergang durch den Zug anriet. Nach einer Weile verließ auch sie das Abteil, weil sie nach gemeinsamen Bekanntschaften zwischen Hamburg und Schwerin gefragt worden war; sie wandte sich aber zur anderen Seite.
Cresspahl war es recht, daß Lisbeth einmal etwas verlangt hatte, was zu machen war; obwohl er den Sonnabend hätte für Arbeit brauchen können. Er versprach sich von Hilde, daß sie die Jüngere mit Fragen auf einen anderen Weg brachte; er hatte fast Vorfreude auf den Schwager und auf die Gelegenheit, einmal etwas zum Vergnügen zu trinken. Cresspahl stand am Fenster und zeigte seinem Kind die Warnow, neben der der Zug seit Warnow rechts herlief, einen kleinen, über Steine und Astbruch hintrödelnden Fluß, und dann auf der anderen Seite den Kanal zwischen Bützow und Güstrow, der eines Tages hatte nach Berlin führen wollen. In Güstrow war der Stationsname den Seitenflächen viereckiger Lampen aufgemalt. Das Kind wollte wissen, warum sie hier fünf Minuten warten mußten. Cresspahl meinte, es sei wegen des Anschlusses nach Neustrelitz, dann nach Wendisch Burg, wo andere Verwandtschaft lebte, die Niebuhrs. Horst, in Güstrow, vergaß er. Dann war es schon halb zwölf, und sie reisten durch den Wald östlich von Güstrow, den Priemer, wo hinter einer dünnen Kiefernwand das Heereszeugamt Nord ausgebaut wurde. Er wußte, daß Schmidt aus Güstrow dahin lieferte. Kröpelin aus Bützow, desgleichen. Für jemanden, den ein Engländer etwas fragen konnte, wußte Cresspahl eine Menge Staatsgeheimnisse. Auf der Höhe des Hohen Holzes vor Teterow unterhielten die Hamburger sich mit einem neuen Fahrgast über den Anschluß Österreichs an das Großdeutsche Reich, nölig aber mit Vorbehalten einverstanden, und Cresspahl erzählte dem Kind von dem Hecht, den die Teterower in ihren See zurücksetzten, da sie sicher waren, ihn nach der Kerbe im Bootsrand wieder finden zu können. Kurz nach halb eins machten die Cresspahls sich auf den Weg zum Speisewagen, und in Malchin erwischte das Kind einen Blick auf einen kleinen Hafen mit aufgebockten Booten und Holzwerkstätten. Aber an der Leuschentiner Forst waren sie schon wieder auf dem Rückweg, weil der Speisewagen überfüllt gewesen war, zumeist von Militär, das da offenbar schon lange bei Bier und Wein gesessen hatte. In Neubrandenburg hielt der Zug fünf Minuten, und Cresspahl konnte dem Kind zu Lisbeths Broten eine Limonade kaufen. Das war schon drei viertel eins, dann kamen sie durch Pasewalk an der Uecker, und kurz vor zwei überquerten sie zwischen Grambow und Stöwen die pommersche Grenze. Um halb drei stand der Zug in Stettin, und die acht Kilometer auf der greifenhagener Strecke nach Podejuch hatten sie nach einer Viertelstunde auch hinter sich, da stand am Bahnhof Alexander Paepcke mit seiner Alexandra und seinem Eberhardt, und Alexander sagte: Hinrich, nu wullt wi ein’ to Brust næmn.
Hilde, die mit ihrer Christine, eben ein Jahr alt, zu Hause geblieben war, umarmte ihren Schwager Cresspahl ausführlich und hatte dabei ein Auge auf ihre Schwester; Lisbeth sah ihr freundlich zu, eher aufmunternd. Sie fand Lisbeth wenig verändert, wenn sie ihre Müdigkeit nicht rechnen wollte. Ihr ging die Arbeit so fix durch die Hände wie früher, nur daß es jetzt ohne Eifer ging und ohne Spaß. So mußte ihr nicht auffallen, daß Lisbeth Alexander nahezu furchtsam auf den Mund sah, als er abends aus der Heeresintendantur Stettin erzählte. Alexander war jetzt Major der Reserve, harstdunichdacht! Das Haus in Podejuch war zwar nur gemietet, und teuer, aber doch herrschaftlich genug,
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