Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dazu brachte. In den Kellern unter dem Landgericht war es ihm nicht schlechter gegangen als einem Dieb, dessen Schuld noch nicht verkündet ist. Dora hatte ihm zu lesen bringen dürfen, ihr waren auch Besuche außer der Reihe nicht verweigert worden. Er hatte an vielen Tagen eine halbe Stunde auf den Gefängnishof dürfen, wenn auch allein. Er war nur zweimal vernommen worden. Er hatte sich in der ganzen Haftzeit sicher gefühlt, nicht nur, weil Alfred Fretwust von Doras Schmiergeldern ganz weich geworden war, sondern wegen der Gewißheit, daß nicht möglich war, was ihm zustieß. Da es nicht rechtens war, mußte es ein Versehen sein. Er ging seiner Frau zuliebe.
Wenn Dora kam, erzählte sie ihm von den Fortschritten der Stempel in ihren Pässen. Sie erzählte ihm nicht, was ihr auf den Behörden für eine Scheidung von ihm versprochen wurde. Sie sprachen über das Haus in Jerichow, über Verkäufe, über Dinge, die noch eben in Fretwusts Kopf hineingingen. Sie sagte ihm nicht, daß Friedrich Jansen das Haus einige Stunden lang mit seiner Schlägergarde besetzt gehalten hatte, um die Räume auszumessen. Einmal kam sie ohne Mantel, im späten Oktober, und er vergaß sie zu fragen. Sie war auf dem Bahnhof Gneez von Frieda Klütz angespuckt worden, und sie hatte den beschmutzten Mantel ausgezogen und der keifenden Altjungfer ordentlich in den Arm gelegt. Arthur sah aber, daß sie zu wenig schlief, daß sie von Mal zu Mal magerer geworden schien, ihre großen heißen Augen. Er mochte nicht noch viele Morgen ohne sie aufwachen, er gab ihr nach. Was er an Eigensinn noch für nötig hielt, war das Beharren darauf, daß sie von einer Reise sprechen wollten, nicht von einer Auswanderung. Selbst Fretwust sah da keinen Unterschied mehr und schrieb in seine Mithörkladde: Will Deutsches Reich verlassen. Fretwust vermied nach Möglichkeit Arthurs Namen beim Mitschreiben, nachdem Dora ihn einmal angefahren hatte: wer von ihrem Mann spreche, benutze das Wort Herr und gebrauche den akademischen Titel. Es hatte Fretwust verwirrt. Der Mann hieß Doktor, weil er etwas gelernt hatte, das konnte man ihm doch nicht wegnehmen. Der war Offizier gewesen, und wenn man ihn mit Vornamen ansprach, wußte der doch noch, daß er im Krieg von oben nach unten gesprochen hatte. Jude, ja, aber Jude obendrein. Die Frau des Tierarztes hielt sich immer noch als eine von denen, vor denen er die Mütze abgenommen hatte. Sie konnte so unverhofft vor einer Tür stehen bleiben, daß ein Justizwachtmeister des Neuen Großdeutschen Reiches ins Laufen kam, um nur rasch genug die Klinke für sie zu drücken. Wenn sie ihm wegen der Behandlung ihres Mannes Vorschriften machte, versuchte er zu grinsen, und schaffte es nicht; er hätte von seiner Mutter nicht einen so strengen Ton, so unnachsichtige Blicke hingenommen. Wenn der Besuch zu Ende gehen sollte, stand Fretwust gegen die Vorschrift auf und wandte sich für ein paar Sekunden zur Wand. Blickte er dann über die Schulter zurück, saßen die beiden einander gegenüber wie vorher, und sie mochten versucht haben, einander etwas zuzustecken, aber bei einer Umarmung konnte er sie nicht ertappen. Wenn Fretwust dann beim Bier von dem geilen Ehepaar erzählte, hatte er ein gestörtes Gewissen, und war doch fast sicher, wenn er an den Nachmittag dachte, als Frau Semig dem Juden ihre Hand auf die seine gelegt hatte, als müsse sie ihn über etwas trösten. Das war, als sie aus Schwerin die Andeutung mitgebracht hatte, ein Leben für die Semigs in Deutschland wäre leichter, wenn sie Kinder in die Welt gesetzt hätten.
Nicht nur seiner Frau wollte Semig ersparen, was er für ein Versehen hielt, auch den Leuten, die in Jerichow noch mit ihnen gesprochen hatten. Es lag nicht an ihm, aber seinetwegen waren sie von der politischen und der Kriminalpolizei besucht worden. Er hatte sie bloßgestellt, das war keine Art sich zu bedanken; also mußte er sich von ihnen entfernen. Das machte zwei Besuche.
Der erste sollte bei Cresspahl sein; nur daß Cresspahl sofort vorschlug, in Semigs Haus zu kommen. Wieder einmal fand Lisbeth es unnötig, daß sie sich ganz Jerichow auf dem Weg in die Bäk zu erkennen gaben. Sie lag aber Dora Semig im Arm wie ein Kind, das sich ausgeweint hat.
Auch Kollmorgen kam ins Haus. Der kleine Herr hatte eine Ansprache vorbereitet, und er bestand darauf, dabei eine Hand von Semig in seinen beiden zu haben, so daß er etwas zu steil und Semig etwas zu tief blicken mußte. Die Rede begann wohl mit der
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