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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Gelegenheit des Abschieds, ging dann aber auf das entschiedenste in die Büsche. Es sei nun fast genau vierhundert Jahre her, daß Jürgen Wullenwever, Bürgermeister von Lübeck, hingerichtet worden sei. Von diesem 24. September 1537 kam er dann auf den 20. Dezember 1712, an dem die Schweden bei Gadebusch eine Schlacht gegen die Dänen gewonnen hatten, und wenn die beiden Daten auch von fern und ungefähr etwas mit dem Überstehen schlechter Zeiten zu tun hatten, am Ende vertraute selbst Avenarius nicht mehr darauf, und seine Zuhörer mußten merken, daß er nicht das hatte sagen wollen. Er war sehr verlegen, stand danach mit dem Rücken zu den anderen, wenn es anging, und gab sich den Anschein, als mustere er das Köstersche Biedermeier. Daß er seine hinter sich verschränkten Hände zeigte, das ratlose Durcheinander seiner Finger, er mochte es vergessen haben.
    Das war das letzte Plädoyer, das Dr. jur. Avenarius Kollmorgen hielt.
    Von den Tannebaums, jüdische Kleiderhandlung zu Jerichow, verabschiedete Dr. Semig sich nicht. Er hatte kein Mal mit ihnen zu tun gehabt; nicht einmal als Kundschaft.
    Beide, Dora wie Arthur, verbaten sich eine Begleitung zum Bahnhof. Sie wollten am anderen Morgen den frühesten Zug nach Gneez benutzen, den Milchholer.
    Der Zug ging zwei Minuten nach sieben, und eine Viertelstunde vor sieben stand das Ehepaar Semig vor Cresspahls Küchenfenster, Dora im Licht, Arthur weiter hinten im Dunkeln, an der Milchbank. Als er in die Küche kam, war sein Gesicht immer noch bekannt, die einstmals behaglichen Sprechfalten, die leicht geschürzten Lippen, die früher besinnlichen Augen, die immer etwas heller geworden waren, wenn er auf etwas Spaßiges gestoßen war, auch wenn er sich versagt hatte, es auszusprechen. Aber Lisbeth hatte sich sehr erschrocken, weil sie sein Gesicht schon aufgegeben hatte. Nun mußte Cresspahl sie doch zum Milchholer fahren in dem Auto, das Semig gehört hatte.
     
    – Was hatten sie vergessen? sagt Marie. Sie hat sich nach der Technik des Auszugs erkundigt, zwischendurch gefragt, was mit dem gebrauchten Bettzeug, dem Frühstücksgeschirr, den Hausschlüsseln getan wurde; für sie war mit dem gegenseitigen Abschied am gestrigen Abend auf Semigs Hof alles getan und abgetan.
    – Sie hatten das Cresspahlsche Kind noch einmal sehen wollen.

22. Januar, 1968 Montag
    Die New York Times läßt Eartha Kitt immer noch einmal vortreten. Will doch diese Negerin nicht einsehen, daß ihre Äußerung über den Krieg in Viet Nam ein Verstoß gegen die Etikette war, weil sie sie gegen die Gattin des Präsidenten tat. Sagte doch Miß Kitt dem Sender WEEI in Boston ungerührt: Ich wüßte nicht wie. Ich bin ziemlich erstaunt. Ich hob die Hand und sollte meine Ansichten erklären. Das hab ich getan.
    18 Tote der U. S. A., mindestens 25 Tote Nord-Viet Nams bei den Kämpfen um Höhe 861 bei Khesanh. 21 Holzfäller Süd-Viet Nams getötet durch amerikanischen Artillerie- und Flugzeugbeschuß, weil sie in einem Gebiet arbeiteten, wo jeder Mensch als Freiwild gilt.
    Da her hat Marie Post.
    Die Post kommt von Dr. Brewster, ihrem ersten Arzt in New York, der im vorigen September zu einem nachträglichen Militärdienst abgerufen wurde und nun Lager von Flüchtlingskindern in Viet Nam ärztlich versorgt. Es ist eine ganz unerstaunliche Karte, mit einem japanischen Druckvermerk und Wünschen für Weihnachten und ein Neues Jahr mit Frieden auf Erden an »Dear Mary« von ihrem »Wm. Brewster«. Auf der Rückseite des Kartons ist ein rauher Fleck, als sei da etwas Aufgeklebtes abgelöst worden, vielleicht eine Fotografie. Denn Maries Briefwechsel mit dem verlorenen Freund geht über Mrs. Brewster in Greenwich, Conn., »die Gattin«, die womöglich die exotischen Briefmarken für sich behalten will oder nachlesen, was der Mann an diese seine Patientin schreibt.
    – Armeepost wird bloß so abgestempelt, glaube ich: sagt Marie mürrisch, nimmt die Karte zurück und tut sie in ihre Schulmappe, statt sie hinter dem Glas des Bücherschranks auszustellen. Offenbar will sie über diese Glückwünsche nicht reden, oder nicht vor den Ohren der Familie Killainen, die mit dem Krieg ihre anderen Sorgen hat. Mit dieser Post wäre Marie wohl lieber allein gewesen.
    William B. Brewster, M. D., war einer der ersten Amerikaner, auf die sie sich einließ, als sie im Frühsommer 1961 in dies fremde Land hatte mitkommen müssen. Da hatte er noch nicht eine Praxis an der Park Avenue, sondern arbeitete als

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