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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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übersehen. So ging es dir auch mit dem dritten, der im Hintergrund rechts an der Rückseite eines Jeeps liegt, ein Stück Fleisch, von dem entweder Beine oder, sollte der Kopf fehlen, Arme weggestreckt sind. Der Rest der Straße wird eingenommen von einem amerikanischen Panzer, aus dessen Turm sehr klein ein Soldatenkopf mit Helm heraussteht, und nun ist auf der Straße eine Szene.
    Das vierte ist die Ansicht eines Krankenhausflurs mit Fliesenmuster, das in dichter Reihe mit angeschossenen, angebrannten Leuten zugedeckt ist. In dem Bericht dazu war die Rede von zwei bis drei Leuten in einem Bett, Pritschen wo immer Platz ist und einem Krankenrevier, das fast gar nicht belegt ist, nämlich bestimmt für Patienten, die für eine Behandlung Geld geben können, wie Jim Morris aus South Pine, N. C., Verwaltungsunteroffizier der Marine, ausdrücklich versichert. Du suchtest da aber nach dem Namen deines Dr. Brewster.
    Von allen diesen Bildern hast du nur eines in deinen Mappen, das dritte, und die anderen auf dem Tisch liegen lassen, als sollten sie von allein verschwinden. Morgen früh wirst du sie da nicht mehr finden.
    Als ich allein war, hätte ich dir immer noch auf dein Tonband sagen können »für wenn ich tot bin«, was ich dir nun schreibe, damit du es nicht eher als 1976 erfährst. Du hättest es zu früh abgehört, und ich kann schwer das benommene und verständige Gesicht aushalten, das du aufsetzt, wenn du etwas nicht verstehst. Du nickst dabei, und dir ist anzusehen, daß du das Gehörte in Gedanken unablässig wiederholst, als sei es wenigstens so besser zu erfassen. Du hältst es für Höflichkeit; es ist aber nichts als der Rest deiner Furcht aus dem Jahr 1960, als dir aufging, daß du mich nicht auswechseln konntest gegen einen anderen Teil Eltern, daß du noch im Bösen an mich gebunden warst, an die einzige Mutter, deren Verlust du dir vorderhand nicht leisten mochtest. Davon ist übrig, daß du Aufmerksamkeit vortäuschst noch für das, was du für meine Schrullen hältst, immer im geheimen, um ja nicht in Gefahr zu kommen. Das hat angefangen auf einem Kinderspielplatz in Remagen vor acht Jahren, und du kannst es dir ja in acht Jahren bestreiten.
    So hättest du heute hingenommen was ich mir beweisen möchte mit den neuen Nachrichten über den Tod von Charles H. Jordan, der am 20. August in der Moldau gefunden wurde, im vorigen Jahr. Mr. Jordan, ein Mitarbeiter des jüdischen Hilfswerks A. J. J. D. C., hatte am 16. August sein Hotel in Prag verlassen, um eine Zeitung zu kaufen. Freunde wie Bekannte haben einen Selbstmord ausgeschlossen. Ein belgischer Wissenschaftler, der später ein Land des Ostblocks besuchte, beschwerte sich über andauernde Beschattung und bekam als Grund genannt, daß die sowjetischen Agenten ihm nicht sollten antun können, was Mr. Jordan zustieß. Wenn es nicht die Leute vom K. G. B. waren, könnten Abgesandte der Araber es getan haben. Der schweizer Pathologe Ernst Hardmeier, den A. J. J. D. C. für eine Autopsie des Toten verpflichtet hatte, wurde am 10. Dezember mehrere hundert Meter von seinem verschlossenen Wagen entfernt in einem verschneiten Wald bei Zürich erfroren aufgefunden, und hatte die Untersuchung nicht abgeschlossen. So war es bisher.
    Jetzt ist es so, daß eine Regierung der Sozialistischen Č. S. R. der amerikanischen einen Bericht über die Umstände eines ihrer Staatsbürger übergeben hat. Der Bericht ist vorläufig, vielleicht wird die Untersuchung fortgesetzt. Bisher stellt die tschechoslowakische Regierung fest, daß Mr. Jordan am 16. August zwischen elf Uhr und Mitternacht gestorben ist und von einem bestimmten Punkt der Brücke des ersten Mai, mitten in Prag, ins Wasser fiel. Die Todesart ist als Ersticken durch Ertrinken angegeben, der Körper habe keine größeren Verletzungen aufgewiesen, die Wortwahl schließt einen Schlag mit einem Sandsack oder Ähnlichem nicht aus. Dem Bericht beigefügt sind Fotografien des Todesortes und Zeichnungen der Flußströmungen, die mit einer Puppe von Mr. Jordans Größe und Gewicht ausgemessen wurden.
    Wenn das wieder anfangen soll in einem sozialistischen Land:
    daß ein Tod nicht von Staats wegen rechtens ist;
    daß zu einem Mord ein Mörder gehört;
    daß die Toten wenigstens ein Recht haben auf die Wahrheit ihres Todes;
    daß die Todesfälle durch Gewalt, in der Nacht, im Geheimnis, hinter verschlossenen Türen verboten werden, und wenn nicht verhindert, verurteilt:
    es könnte ja ein Sozialismus

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