Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Junker & Ruh-Gasherde, Karstadt, Sekuritglas allesamt, als könnten sie ihre Erzeugnisse nicht dringend genug loswerden, nicht dringend genug neue auf den Markt bringen. Vielleicht war es in der Tat nichts als ein ärgerlicher Irrtum von Cresspahl, und harmlos genug, da er ja nur auf eine etwas übertriebene Vorratshaltung hinauslief; Cresspahl selber gab sich ja belustigt, wenn sie einen Hut anbrachte, den sie erst im nächsten Sommer würde tragen können; Cresspahl schien ja zu verstehen, daß sie ihm eine Nase drehte.
Es gab andere Tage. Tage, an denen sie schon müde anfing. Dann mochte sie nicht in die Geschäfte, konnte eine halbe Stunde versitzen in der Bahnhofsgaststätte von Lübeck, und ließ sich dann von den Einkäufen doch abhalten durch ein Filmplakat. Der Weg von der Kinokasse in den Saal war ihr sehr unbehaglich, noch das Warten im dürftigen Licht, aber die Kopfschmerzen verschwanden, sobald die Bilder zu laufen anfingen. Noch wenn sie abends in Jerichow ankam, war sie benommen, unaufmerksam, aber doch erholt von den anderthalb Stunden Vergessens, von der Abwesenheit in einer Welt aus Spiel und Vortäuschung, ohne eine Spur von Cresspahls Krieg.
Dies waren die Filme, die in der dritten Oktoberwoche 1938 in Lübeck liefen:
Mazurka, mit Pola Negri, für Jugendliche ab 14 Jahren
Verwehte Spuren, mit Kristina Söderbaum, nicht jugendfrei
13 Stühle, mit Heinz Rühmann und Hans Moser, jugendfrei
Die kleine Sünderin, mit Rudolf Platte und Paul Dahlke, nicht jugendfrei
Ein Mädchen geht an Land, mit Elisabeth Flickenschildt
Die Dschungelprinzessin
Petermann ist dagegen, mit Fita Benkhoff
Ich tanze nur für dich, mit Clark Gable
Clark Gable?
Und Coca-Cola gab es auch, Tochter.
Das hiesige?
Wie deine Marie es trinkt, Tochter.
Hab ich es als Kind getrunken?
Gewiß, Tochter. Auf dem Schüsselbuden in Lübeck, und du mochtest es nicht.
Und die Filme hast du dir angesehen wie ich im ersten Jahr in New York?
Wie du in New York, Tochter.
Zur Betäubung.
Es war ein dummes Gefühl. Aber solange es anhielt, war ich sicher. So lange war ich nicht zu finden, nicht einmal von mir selbst.
Hast du mich mitgenommen?
Manches Mal hab ich es versucht und dir doch etwas Gutes getan. Vergiß es nicht, Tochter.
Nein.
Sie erzählte Cresspahl von den Kinobesuchen, der versäumten Zeit. Sie hätte sich einen Vorwurf von ihm gewünscht, nicht nur um ihm Ungerechtigkeit vorhalten zu können, auch als Hilfe gegen solche Pflichtvergessenheit, solche Fluchtversuche. Cresspahl gönnte ihr, was er für ihr Vergnügen hielt. Solange sie ihn glauben ließ, daß sie keine Geheimnisse vor ihm hatte, war er fast unbesorgt.
7. Februar, 1968 Mittwoch
Liebe Marie, dear Mary, dorogaja Marija -
Ich habe etwas, das will ich dir noch acht Jahre verschweigen.
Der eine Grund ist, wir haben nur drei Stunden am Tag zusammen, wenn ich von der Arbeit komme, und als wir heute deine Schule hätten durchnehmen sollen, warst du beschäftigt.
Du warst beschäftigt mit den Bildern, die du aus der New York Times ausgeschnitten hast. Das eine war eine Ansicht des Chinesenviertels von Saigon. Die Bomben, Brände, Straßenkämpfe haben ziemlich gleichmäßige Trümmer übrig gelassen, und da die Fotografie überdies nicht deutlich ist, hast du da nicht die Reste menschlicher Wohnstätten vermutet, sondern eine Müllkippe, in deren Hintergrund aus etwas Waldähnlichem Feuer und dicker Rauch aufsteigt. Und wieder sagtest du, es könne uns in New York nicht zustoßen; schon war es dir weniger wirklich.
Das andere Bild zeigt eine mechanische Werkstatt nach Bombardements, auch in Colon, und halbwüchsige Kinder, die mit einer Eimerkette das Feuer zu löschen versuchen. Du bist ein Gegner von Kinderarbeit, wie du von mir gelernt hast. Dann hast du dir den Vorgang noch damit erklärt, daß die Kinder nicht irgend ein Geschäft, sondern das ihres Vaters retten wollen. Es galt dir als Unterschied.
Das dritte nennt die New York Times, obwohl der erste Blick keine Bewegung erkennt, eine Straßenszene. Auf einer zersplitterten Straße liegt vorn neben einem gummibereiften Handkarren ein Mensch still in einer Haltung, die er im Schlafen nicht einen Augenblick aushalten würde. Er ist als Mensch zu erkennen an einem deutlichen Gesicht, an immerhin vorhandenen Gliedern. Was hinter ihm in den Dreck geworfen ist, ein Sack Lumpen oder verknüllte Decken, mußte dir erst die Unterschrift des Bildes als einen Toten erklären, du hättest ihn sonst
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