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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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anfangen, mit einer in Kraft gesetzten Verfassung, mit der Freiheit zu reden, zu reisen, über die Verwendung der Produktionsmittel zu bestimmen, auch für den Einzelnen.
    Es fehlt noch etwas. Nein, es ist nicht beantwortet: wurde der Tote getötet, und wenn ja, von wem, in wessen Auftrag, warum und wozu?
    Dorogaja Marija, es könnte dennoch ein Anfang sein. Für den würde ich arbeiten, aus freien Stücken. Ich sitze hier allein am Tisch mit deinen Bildern aus der Times, allein mit der Lampe und deinem Schlafatem, der lauter ist als meine Feder, und allein mit einem albernen Vertrauen auf dieses Jahr. Dies habe ich dir aufgeschrieben, damit du spät genug verstehst, was ich vielleicht in diesem Jahr anfangen werde, 35 Jahre alt, du liebe Zeit, ein letztes Mal. Damit du nicht raten mußt, wie ich.
    Sincerely yours.

8. Februar, 1968 Donnerstag
    Das von den Amerikanern geführte Lager in Langvei bei Khe Sanh wurde gestern durch sowjetische Amphibienpanzer vom Typ P. T.-76 überrannt. Straßenkämpfe in Hue. Die Stadt Bentre wurde durch südalliierten Beschuß und Bombardements zerstört; dies war nötig, »um sie zu retten«, nach der Auskunft eines U. S.-Majors. Und Hauptmann Bacel Winstead in Hue sagte beim Anblick von Marineinfanteristen, die auf aus Privatbesitz »befreiten« Motorrädern an die Front reisten: Das amerikanische Militär ist doch das gottverfluchteste in der Welt.
    Um den 20. Oktober 1938 herum wurde in Dassow bei Jerichow ein Mann verurteilt zu acht Monaten Gefängnis und den Verfahrenskosten, der war nicht in der Partei der Nazis. Er hatte allerdings das Abzeichen dieser Partei getragen, um seiner »inneren Überzeugung« einen Ausdruck zu geben. Dem Gericht erschien sein Verhalten, angesichts seiner vielen Vorstrafen, »um so verwerflicher«.
    Wenn Lisbeth etwas in den Kopf geraten war, Cresspahl wurde es in der Regel bald gewahr. Wenn Lisbeth einmal heraus hatte, daß die Hitlerjungen mit ihren Sammelbüchsen vor der Kirche auf die Gottesdienstgänger warteten, tat sie an ihren Hut solche Plaketten mit den Bildnissen hervorragender Nazis, wie das Winterhilfswerk sie gegen Spenden abgab, und konnte den Sammlern dann sagen, mit zierlich gegen die Stirn deutendem Zeigefinger: Ick hev all een.
    Cresspahl redete ihr das aus, und hatte doch ein Vergnügen daran, weil sie zu einem Spaß imstande gewesen war und auch Vernunft gezeigt hatte, wenn auch bei der falschen Gelegenheit. So machte sie es mit ihren alten Goldstücken, die bei der Reichsbank abgeliefert werden sollten; Lisbeth ließ bei Uhren-Ahlreep ein Fünfmarkstück einfassen und schickte ihre Gesine mit der neuen Brosche zu einem Kinderfest beim Parteigenossen Lichtwark. Cresspahl redete ihr das aus.
    Zum Vergnügen war es nicht immer. Wenn der Lübecker Generalanzeiger am Sonntag über eine ganze Seite von den londoner Botenjungen berichtete, den messenger-boys, so konnte sie sich so festlesen und festsehen an den Kindern in der Uniform, mit Schulterriemen, der Kappe auf dem Hinterkopf mit einem Riemen ums Kinn, mit der Nummernplakette überm Herzen, es hörte mit unterdrückten Tränen auf, und am Abend hatte sie die ersten drei Zeilen eines Eingesandt an die Zeitung fertig, in dem sie die Unmenschlichkeit des englischen Kapitalismus bloßstellen wollte, wenn es ihr doch nur um die Erinnerung an ihre londoner Zeit gegangen war und um das Verlangen, sich selbst zu strafen. Cresspahl entging es nicht, sie mochte es noch so heimlich anstellen, und er redete es ihr aus.
    Daß Lisbeth ihr Kind hungern ließ, es ging ihm nur langsam auf.
    Inzwischen schlief das Kind noch, wenn er aufstand; er frühstückte allein, und hätte nicht die Zeit gehabt, die die größere Gesine auf das erste Essen wenden wollte. Er mußte jetzt so früh heraus wie er selber als Kind, wenn er mit den Tagelöhnern der von Haases aufs Feld hatte ziehen müssen; er mußte mit dem Milchholerzug in Gneez einen Anschluß nach Lübeck erreichen, er hatte auf dem Flugplatz vorzuarbeiten oder in der Stunde vor dem Frühstück den Fahnenstangenschaft zu erneuern, den sachkundige Unbekannte nächtens in Friedrich Jansens Vorgarten angesägt hatten. Wenn er dann am Tisch saß, war auch Gesine auf, und es mochte ihm gefallen, daß sie ihm so aufmerksam beim Essen zusah. Auf eine Frage hätte Lisbeth geantwortet, das Kind habe schon etwas gehabt, und für Gesine wäre da kein Widersprechen gewesen, außer daß es zu wenig gewesen war.
    So ging es mit dem zweiten Frühstück, so

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