Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Weihnachten in Jerichow? Mit der Kirche? Mit allen Leuten im Haus? Mit den beiden Kindern allein? Das machte Jakob Sorgen. Er wußte nur die Geschenke, einen Peekschlitten für Gesine, eine Fahrradlampe für Hanna Ohlerich. Dann brachte der alte Creutz den Adventskranz wie jedes Jahr, die Kinder wünschten sich als Weihnachtsessen einen Bratapfel und machten sich das Fest allein. Als sie ihn holten, stand der Tisch fertig hergerichtet, und er fühlte sich davongekommen.
Was soll so ein Haushaltsvorstand tun, wenn am Ende doch der 25. Dezember als sein Geburtstag herausgekommen ist, und alle Leute im Haus ihm die Hand geben und sich bedanken?
Cresspahl hatte zu oft erschossen werden sollen, dann war er abgehärtet, für unholbar hielt er sich, nicht einmal einen Plan für Hanna Ohlerich hatte er gemacht. Hanna wußte zwar, daß ihre Eltern in Wendisch Burg begraben waren. Sie nahm ungefähr an, daß sie die Erbin der Werkstatt war; das Testament lag aber bei der Fischerverwandtschaft in Warnemünde. Warum wollte Hanna nicht mitgehen in Gesines Schule? Hanna sollte nicht länger zur Schule als Pflicht war, danach in die Tischlerlehre. Zu wem? Zu Cresspahl. Und wenn Cresspahl nicht zurück war bis Ostern 1946? Zu Plath. Wenn dessen Gewerbe aber nicht das Tischlern war, war es Hanna auch beliebig, daß sie zu den Fischern kam. Sie ging freundlich neben ihm auf dem Ziegeleiweg, er hielt sie für unaufmerksam. Er wechselte den Schritt. Sie trat einmal kürzer, um wieder mit ihm gleich zu kommen, mitten im Schnee. Sie hörte ihm zu. Sie blies gegen die Kälte an, sie schnüffelte in der schnellen Luft, sie war ganz selbstvergessen beschäftigt. Womöglich wunderte sie sich über ihn. Er war vier Jahre älter als sie, er war der Familienvorstand. Wer sonst sollte wissen, was aus ihr wurde!
An der Ecke des Friedhofs kam ihnen das andere Kind entgegen, den Tornister auf einer Schulter. Diese Gesine ging gleichmütig an ihnen vorbei, wie an unkenntlichen Leuten, so dunkel war es aber nicht an einem Nachmittag im Januar, im blitzenden Schnee. Das tat sie gern, wenn sie ihn mit Hanna zusammen sah, und Jakob verstand es nicht. Er meinte oft, sie wolle ihm etwas zeigen, dann deckte sie es zu. Im November war sie ihm gekommen mit Fragen wegen der Engländer. Ob nicht die Sowjets das Gleiche gewollt hätten wie die Engländer. Jakob gab das zu, für eine vergangene Zeit. Ob die Sowjets wohl darüber hinaus jemand helfen würden, der den Engländern geholfen habe? – Ja-nein: sagte Jakob vorsichtig, er hatte sich reichlich Mecklenburgisch angenommen. Englische Freundschaften sah er nicht länger an für eine Empfehlung in der sowjetischen Zone, er mochte es nicht zu früh aussprechen. Das Kind hatte ihn längst verstanden, lief weg, drückte später die Frage weg als beliebigen Einfall. Warum wollte sie die Sache so dringlich zurücknehmen? Was konnte Ängstliches daran sein. Wieso reichte das zu einem schlechten Gewissen? Auf so ein Kind sollte er nun aufpassen, und wurde nicht klug aus ihm.
An diesem Tag brauchte er ihr nicht nachzurufen, sie kam aus freien Stücken zurück, sie lief durch den lockeren Schnee, einmal mußte sie auf ein Knie hinunter. – Jakob! rief sie und er stand doch vor ihr. – Jakob! Die Engländer haben getauscht!
Wieder diese Engländer. Was hatten die Cresspahls mit denen zu schaffen? Das Kind hatte ganz vergessen, würdig und unbeteiligt zu tun, sie war ganz verloren an ihre Aufregung. Jakob konnte ihr nicht abstreiten, daß die Engländer getauscht hatten. Es war seit einer Woche als Gespräch angekommen in Jerichow, und wieder hieß es: der Winkel komme zum Westen. Nicht zu Schweden, den Düwel eins, immerhin zu den Briten. Die Briten hatten im Dezember große Stücke Land bei Ratzeburg an die Sowjets abgegeben, über 4700 Hektar im Tausch gegen 1600 Hektar östlich der Stadt, damit ihr die Demarkationslinie nicht mehr so dicht anlag und sie Hinterland bekam zum Wirtschaften. Die Dörfer Bäk, Mechow, Ziethen waren zu Schleswig-Holstein geschlagen; Dechow, Groß Thurow und das ganze Ostufer des Schaalsees mitsamt dem Stintenburgschen Werder gehörte nun zu Sowjetmecklenburg. Etwa 2000 Menschen waren an die Briten ausgeliefert worden, die Leute einer kleinen Stadt (wie Jerichow). Wenn die Grenze an einer Stelle nicht heilig war, so war sie es auch an anderen nicht; wenn für eine solche Stadt wie Ratzeburg Raum geschaffen wurde, was brauchte denn erst eine Freie und Hansestadt Lübeck an Platz zum
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