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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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seiner ausgebreiteten Times, er muß auf einem Foto das Friedhofspersonal beobachten, das in Arlington das Grab für morgen ausmißt. Tony, Anthony, der so dringend vergessen machen will, daß er in einem italienischen Armenviertel der Stadt geboren ist, unser Herr mit den streng vollendeten Formen, er fläzt sich geradezu über den Tisch im Bemühen, die Zeitung nicht zu knicken, und wie gestern liegt in seinem Terminkalender die erste Seite eines Blattes, mit dem er sich sonst nicht einmal die Schuhe putzen würde, die Daily News, die Bildzeitung. Still ist es in dem großen Salon der Herren wie in einem Lesesaal, bis auf ein geringfügiges Detail ist der Anblick zu verwenden als Reklamefoto für die New York Times. De Rosny mag wissen, warum er an diesem Morgen keinen Rundgang tut; er könnte sich über die Geschäftigkeit seiner Untergebenen erschrecken.
    Auch die Angestellte Cresspahl begibt sich nicht geschwinden Schrittes in ihre Zelle, vielmehr vertrödelt sie Arbeitszeit neben dem Schreibtisch unseres eleganten Tony. Links auf dem Titelblatt des Picture Newspaper von gestern steht »Final« gedruckt, das heißt wohl endgültig oder auch Letzte Ausgabe. Rechts steht der Preis, acht Cent, daß du es nur weißt. Darunter Nachricht vom Wetter, sonnig und warm, so kann man es ausdrücken. Die Buchstaben RFK DEAD haben eine Länge von fast zwei Zoll. Warum nicht fünf Zoll? Darunter, in dünner schwarzer Umrandung, blickt der Tote den Käufer an, treuherzig um die Augen und etwas bekümmert über die Schlechtigkeit der Welt, die Lippen verdächtig locker, das Gesicht ein wenig gedunsen. Das Haar ist zu kunstvollem Ungestüm gepackt wie je, die linke Schulter rückt er vor, verläßliche Zuwendung. Den Schlips hätte seine Frau ihm dichter vor den obersten Hemdenknopf zerren dürfen. Die Cresspahl würde Tony dies gammlige Blatt gern abkaufen, sie ist nicht sicher, ob Marie es denn hat, sie traut sich nicht. Wäre es für Marie gewesen? Für wen sonst.
    Alle Zeitungen müssen nun ihre Worte aufessen wie alte Hüte. Ruthless, grausam und unbarmherzig, das war er nun doch nicht. Mag er in jungen Jahren eher rücksichtslos als klug gekämpft haben, die Times will es ihm nun vergeben, tat er es doch nicht für selbstischen oder niedrigen Zweck. Vollständige Kenntnis des Prozeßwesens traut sie ihm immer noch nicht zu, einen Krieger will sie in ihm erblicken, einen großen Mann, der bei seinem Tod noch wuchs. Was fängt de Rosny nun an mit seinen unzähligen Geschichten über jene Cartoon-Figur Bugs Bunny, den närrischen Erfinder, der etwa mit einer motorgetriebenen Hängematte seine Nachbarn um Besitz und Gesundheit bringt; de Rosny wird sich geradezu ein neues Opfer ausdenken müssen. Wetten wir auf Richard Milhous Nixon, der so schön weinen kann?
    Als ob da nicht Schularbeiten wären. Es haben ja nicht alle Tschechoslowaken dem Einmarsch der sowjetischen Manövertruppen zugewinkt. Es sind wohl auch mehr als erwartet, auch mit schwererem Gerät; die Gewichtsbeschränkungen an den Brücken mußten eigens von 30 auf 70 t erleichtert werden, was man lieben Freunden wohl zugesteht. Da hätte der Innenminister zu sinnieren über so wandelbare Brücken, dabei stört ihn seine eigene Geheimpolizei, als unterstünde sie Stalin nach wie vor. Schreib das auf. Neuerdings sind es bis zu 30 000 Fälle, in denen die Staatssicherheit mit falschen Beweisen unschuldige Bürger eingesperrt hat.
    Wer es schon um drei nicht mehr aushält mit solchen Vorbereitungen auf eine Europareise, ist die Angestellte Cresspahl. Marie meldet sich nicht am Telefon in der Wohnung. Es kann das Günstigste bedeuten. Kann sie das Telefon nicht hören, ist sie weit weg von dem Flimmerkasten, von den Nachrichtenstimmen, bei Pamela zu Schularbeiten, mit Rebekka im Park, wo der Eismann klingelt. Wer so nicht denken will, der glaubt das Kind an der St. Patrick-Kathedrale. Was hat sie davon, der Sarg ist doch geschlossen. Das macht ihr nichts aus, deswegen kann sie doch daran vorbeigehen wollen und die Fahne auf dem Kasten ein wenig anfassen. Da sollte sie nicht allein stehen. Da müßte sie empfangen werden. Die Cresspahl gibt sich frei, abmelden kann sie sich nicht mehr, auch Mrs. Lazar ist schon gegangen.
    Um diese Zeit hat die Schlange ihr Ende auf der Lexington Avenue, an der 47. Straße. Sie ist so füllig, wer an ihr entlanggehen will, bekommt einen Gang wie beim Balancieren. Vor dem eckigen Glasschichtkeks der Chemical Bank ist Marie noch nicht zu

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