Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Unterhaltung mit Seitenblicken auf das steife Paar vor der Bilderkiste. Sie vergißt sich in plötzlicher Fröhlichkeit, sie lächelt, mag das nun Dankbarkeit sein oder Übermut. Sie bekommt einen unwilligen Seitenblick von D. E., als sei da nichts zum Lachen, und verzieht sich gehorsam mit dem Radio in jenes eine Zimmer, dessen Tür fest zu schließen ist.
WQXR , die Stimme der New York Times, sendet über 96.3 Megahertz, nun wird sie der gebildeten Gesellschaft einmal zeigen, wie eine Große Alte Dame von Welt sich benimmt beim Tode eines ermordeten Widersachers. Heiter und solide beschreibt sie ein Bankgeschäft, ein namentlich angesehenes, und empfiehlt dessen Dienste dem Publikum. Nicht nur verdient die würdige Tante Times sich ein wenig Nadelgeld mit Werbung für Fremde, auch die eigenen Verdienste rückt sie in den Äther, mit Hinweisen auf tiefschürfende Berichte, die sie morgen verkaufen will. Es ist zuverlässig ihr Kanal, sie nennt sich bei Namen, sie ist es selbst. Nicht das Schwarze unterm Nagel will die Times dem abgeschafften Feinde gönnen an Teilnahme und Beileid, unbeirrt ehrt sie den Dollar, ihr schenkt auch keiner was.
Im anderen Zimmer lädt D. E. das Kind immer noch nicht ein zum Besuch eines Leichenschauhauses von New York, wo auch Tote liegen mit spitzer Nase aufwärts, ebenso katholisch, dennoch ohne Aussicht auf ein Begängnis in der schicksten Kathedrale an der Fünften Avenue; er hat aber schon ein Spiel mit Marie. Jeder der beiden Teilnehmer darf sich einen Punkt anrechnen, wenn er eher als der andere die Bewandtnisse der Würdenträger erkennt, die vor ihren Augen durch die Kontrolle in die Kathedrale geleitet werden. Gleich lagen sie bei dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und dem Präsidenten der Automobilarbeitergewerkschaft, dem Präsidenten des Landes und dem ehemaligen Chef der C. I. A.; zu ihren Gunsten rechnet Marie fast alle anderen, von dem Dichter Robert Lowell bis zu Senator Eugene McCarthy; nur bei Lauren Bacall will D. E. schneller gewesen sein; ihr fällt nichts auf. Danach beginnen sie die Farben der Prozession zu raten, die der Apparat nicht hergibt, und ahnen das Weiß der Seminaristen, vertun sich beim Braun der Mönche, dem Olivenen an den Militärgeistlichen, dem Purpur der Monsignori, dem Violett der Bischöfe, einigen sich auf das Scharlachrot der Kardinäle; inzwischen, schlicht in der Vorstellung eines bunten Bildes, hat Marie auch einen Blick gewonnen für die Feinheiten der Inszenierung. D. E. darf die eine Bedeutung von Service mit der anderen vergleichen; auch sie läßt sich ein auf eine Berechnung der Kosten.
In den Scherz folgt sie ihm noch nicht, aber beide blicken einander gelegentlich an wie früher, anschlägig, heimlich verständigt, so wenn dem überlebenden Bruder Kennedy die Stimme bricht gegen Ende seiner Gedenkensrede. Zwar will sie den weinerlichen Ton noch respektieren, D. E. fängt ihren aufkommenden Verdacht ab mit einem Kommentar zu dem Motto des Toten:
»Manche sehen die Dinge wie sie sind, und sagen: Warum muß das so sein?
Ich träume von Dingen, die gab es noch nie, und ich sage: Warum kann das nicht sein?«
Hat er ihr einmal die Herkunft des tränenvollen Zitats von G. B. Shaw nachgewiesen, samt Historie des Fabianismus, darf er hinzufügen: Die nehmen eben auch beim Borgen vom Besten.
Danach sieht sie mißtrauischer auf die acht Halbwaisen, die Brot und Wein in goldenen Gefäßen zum Hochaltar tragen; sie mag auch nicht das auf den Sarg gesprenkelte Wasser verteidigen, das Gottes reinigende Gnade vom Himmel herabrufen soll, nicht das Schwenken von Weihrauch, der die Gebete der Gläubigen zu Gott erheben soll. Das hat sie zu oft gegen ihren Willen aufsagen müssen in der Schule. Allmählich erkennt sie die Vorgänge in der Kathedrale als private Veranstaltung, die ihr den Toten wegnimmt, und beim Abspielen des langsamen Satzes aus Mahlers Fünfter durch 30 new yorker Philharmoniker kann sie noch nicht aussprechen, wie die Kennedys sich anstellen, wenn sie borgen; sie gibt den Gedanken mit mühsam amüsiertem Seitenblick zu. Der fröhlich dahintrampelnde Schlachtchoral der Republik stört ihre Gelassenheit noch einmal, sie kann sich nicht wehren gegen D. E.s Erinnerung, daß die Melodie entwendet wurde aus dem anderen Lied,
John Brown’s Body Lies Mouldering in His Grave
von dem Überfall des Sklavenfreundes Brown auf Harpers Ferry in Virginia, die Entlehnung stört sie, die unterlagerte Verwesung der Leiche auch,
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