Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Person. Die Witwe von neulich will sich noch einmal behaupten gegen die des Senators, mit viel Umstand beschäftigt sie ihre Kinder und sich mit dem Niederlegen von Blümchen auf die eigenen Grabplatten. Die anderen Verwandten küssen den Sarg des neueren Toten, lassen ihn auf dem Rasen stehen. Immer wieder knien noch Fremde nieder an dem afrikanischen Mahagoni, berühren es mit den Lippen, beten. Marie hockt mit hochgezogenen Beinen auf dem Regal, hält die Hand am Munde, lediglich erstaunt über eine Zeremonie, die die Mutter aus Europa anders erzählt hat.
Das Radio sagt nichts darüber, daß hier die Verwandten nicht bleiben bis zur Beerdigung des Toten. Die New York Times ist offenbar tagsüber beiseite genommen worden von einem ihrer jungen Neffen, der ihr das Unschickliche ihres Betragens vor Augen führte, auch die Folgen fürs künftige Geschäft; nun versichert sie die Kunden ihres guten Geschmacks mit wehmütigen Konzertstücken und gedämpftem Nachrichtenton. Ein Sender neben ihrem Kanal beendet die Übertragung mit einem Werbespot über die Gefahren des Rauchens.
Die Abteilung Fernsehen geht über auf Anblicke des Meeres, unterlegt mit einem süßlichen Sang, auf eine fotografische Aufnahme, die nun als Einziges übrig geblieben sei. Die Nachrichten zu elf Uhr werden bezahlt von der Firma SAVARIN -Kaffee. Der Werbefilm zeigt den Experten bei den Kaffee-Arbeitern, die ängstlich seine Reaktion auf das Getränk erwarten. Es mundet ihm, und folkloristische Freude breitet sich aus über die indianischen Gesichter. Der Experte fährt von dannen in seiner echt südamerikanischen Eisenbahn. Beteiligt an der Finanzierung der Nachrichten ist weiterhin der Schabentöter Schwarze Flagge, Kill & Clean, Bring um und Mach rein. Wenn es nach Marie geht, werden wir diese Sachen nicht kaufen, für eine Weile. Nun werden noch ohne Pause Musikstücke im Augenblick ihrer Aufführung gezeigt, unterbrochen von einem Foto des Toten, das ein wenig schief zu hängen scheint. Er hat die Hand am Kinn, gesprächsweise; er sieht jünger aus als vorvorgestern.
Um ein Uhr nachts: THE GREAT GREAT SHOW , ein Märchenstück aus dem Ungarn des Vorkriegs: Die Baronesse und der Butler. Bloß die Abonnenten nicht verärgern.
D. E. hat beständig ausgehalten auf dem Stuhl neben Marie, etwa zweieinhalb Unzen Tabak hat er gut durchgebraten in seinen Pfeifen, die dritte Flasche Rotwein ist angebrochen, er will nicht der sein, der aufgibt. Kaum hat Marie den Übergang ins Normalprogramm erkannt, schon bittet sie um die Erlaubnis, das Gerät auszuschalten. Sie rollt es neben die Wohnungstür, das Kabel aufgewickelt, der Leihfirma zum Abholen bereitgestellt.
– D. E.: sagt sie: Was müssen wir tun, damit du morgen mit uns zusammen bleibst?
– Mit mir jetzt über den Hudson fahren und den ganzen weiten Weg in die Wälder von New Jersey, wo meine Blockhütte steht.
– O. K.: sagt Marie, betrachtet ihn fürsorglich, belustigt, vorfreudig. Sie lehnt an seinem Stuhl, legt ihm die grauen Haare hin und her. Er hat sich Dank verdient.
In D. E.s Wagen, vor der Einfahrt in den Tunnel nach New Jersey, wendet sie sich nach hinten. Die Stelle ist dunkel genug, die Mutter wird ihre Miene nicht erkennen können.
– Thank you for letting me have this: sagt sie.
– Wer, ich? Mrs. Cresspahl fährt aus ihrer Schläfrigkeit auf, fast glaubt sie neben sich noch jemand sitzen.
– Ja. Du. Daß du mir das Fernsehen erlaubt hast. Dafür bedanke ich mich.
9. Juni, 1968 Sonntag
ist der amtliche Trauertag der Nation, so wie der Stadt New York einer für gestern verordnet war; Marie hat nichts gelegen an einer Reise zum Ehrenfriedhof Arlington, die Angaben des Fernsehens nachzuprüfen an dem frischen Grab. Was sie sich wünschte, war eine Spazierfahrt zu den Seen Culvers und Owassa, zum Delaware an die pennsylvanische Grenze und über den See von Little Swartswood zu dem bäuerlichen Herrensitz, den D. E. seine Blockhütte nennt. In Arlington mögen sie mit Blumen Prozession gegangen sein zu R. F. K.; wir sahen unterwegs Autofahrer gleich uns auf Unterhaltung aus, Händler mit Eiern und Kirschen vor Farmen und Waldwegen, in den kleinen Städten Flanierbetrieb, reichlich besetzte Kaffeestuben, Kinder an klingelnden Eiskarossen, die Ufer bunt belegt mit Badenden. Marie beobachtet uns gar nicht mit Verachtung, weil wir all den frühen Abend hinbringen in D. E.s buschigem Garten, müßig im Gespräch, kummerlos in der grünen Dämmerung; sie zeigt sich eher
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