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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Fernsehstationen von der Fünften Avenue gezeigt haben an Fahnen auf Halbmast und feierlichem Gedränge entlang der Sargroute, hier ist gewöhnlicher Sonnabend. Wenige Läden verdecken ihr Angebot mit schwarzgerahmten Bildern des Senators oder Trauerschleifen, kaum einer ist geschlossen; Mrs. Cresspahl bekommt ihre vier Flaschen Quellwasser (das aus der Leitung ist widerlich braun von den Ablagerungen in den Hauptrohren, hochgespült vom wechselnden Druck, seit Kinder überall in der Stadt aus den Feuerwehrhydranten Straßenduschen gemacht haben und Erwachsene den dritten Tag zu Hause sitzen vor den Fernsehapparaten); sie findet ohne Mühe die Delikatessen für ein wahrhaftiges Mittagessen, das D. E. uns verschafft hat. Und Marie ißt viel von ihrem Kummer auf mit schwarzem Brot aus Westdeutschland und eingelegtem Fisch aus Dänemark. Sie hätte Hunger für schamlos gehalten, nun bemerkt sie es nicht, denn D. E. ist keinen Moment eher fertig als sie. Wir werden dir das Kind noch überschreiben, D. E., du Erziehungsberechtigter.
    Gegen drei Uhr werden im Fernsehen die Übertragungen des Vormittags stückweise wiederholt, da der Zug zu selten an Kameras vorbeikommt und die Menschenmengen auf den Bahnsteigen der Washington-Strecke eben nur immer wieder ähnliches Gewinke, Gebrüll, Schilderschwenken hergeben. Den Nachruf des jüngsten Bruders kennt Marie nahezu auswendig, weiß auch vorher die Stelle, an der ihm die Stimme zu brechen beginnt. Mittlerweile ist der Zug so oft langsam gefahren für die Zuschauer draußen, so von Defekten geplagt, er ist seinem Plan um Stunden hinterher, und noch eine Rechnung D. E.s geht auf: vom Schwimmen müde, nickt Marie ein, mitten in der Diskussion, ob der kaputte Bremsschuh am letzten Wagen tormosnoi bašmak oder tormosnaja kolodka heißen würde. Sie ist so tief entfernt im Schlaf, ahnungslos gleitet sie an der Sofalehne ins Liegen, sie hört nicht das hohle Läuten der Lokomotivglocke im Fernsehen aussetzen, nicht das Klappen der Tür.
    Der Riverside Park scheint nicht leerer als sonst, das mag die New York Times uns morgen aufzählen und beweisen. Mrs. Cresspahl sieht die hitzetrockenen Steige nicht an auf Begegnungen, sie sucht verdeckte Windungen; richtig findet sie vor dem Durchgang zur Promenade am Hudson eine gut zugewachsene Treppe, auf der sie sich Herrn Prof. Dr. Erichson an die Brust legen kann und ohne Unterbrechung weinen, Schicklichkeit hin, Anstand her. Manche streicheln einen dabei, regelmäßig über ein Schulterblatt abwärts, wie ein untröstliches Pferd; dieser hält einfach fest, sucht nicht mehr Berührung als gewünscht, spricht nicht.
    Es ist die Ansteckung durch die öffentliche Hysterie.
    Du bist nicht angesteckt, Gesine. Du bist nicht hysterisch.
    Weil ich den dritten Tag uneins bin mit dem eigenen Kind.
    Du kriegst sie zurück, Gesine.
    Weil sie die Rührseligkeit von mir haben könnte.
    Weißt du’s denn nicht? Du bist nicht rührselig. Sie ist ein wenig ins Amerikanische gefallen.
    Ich erzieh das Kind nicht richtig.
    Jakob wär es so recht. Wie mir.
    Du dürftest es jetzt sagen, D. E., wenn nicht aus Mitleid.
    Glöw mi man so.
    Glöw’ck di so.
    Abends, treu der vierstündigen Verspätung, ist auch das Fernsehen in Washington angekommen. Die Position des Sarges wird angezeigt von den Blitzlichtern, die die Zuschauer auf ihn abschießen; die Dunkelheit ist übermächtig. Die Regie der Familie verlangt, daß der Tote jene Senatsgebäude passiert, in denen er Büroräume benutzt hat. Begrüßungsjubel, der verschüchtert abstirbt. Scharfschützen auf den Dächern, verkleidete Polizei überall. Die Leiche muß sich vier Minuten lang verabschieden von der sanft angestrahlten Figur Abraham Lincolns, der doppelt in seinem Sessel sitzt, so verzogen ist das Bild. Und noch einmal: der Schlachtchoral. Präsident Johnson im ersten Wagen hinter seinem abgeschlagenen Widersacher, umhastet von Geheimdienstleuten. Der Mond zieht Schleier über das Gewimmel, das schwarze Wasser des Potomac kann er nicht heller machen. Beim Ausladen will ein Sohn des Toten dringend tragen helfen und muß also am Kopfende anfassen. Die Träger irren sich anfangs in der Richtung, gehen ungefähr auf das ewige Licht zu, müssen schräg über die Anhöhe abschwenken. Nach dem letzten Service faltet John Glenn die Fahne mit zackigem Geschick, übergibt sie dem neuen Chef der Kennedys. Eine Staatskarosse hat aus dem Wohnsitz des Toten seinen Schnepfenhund herangefahren, Freckles in eigener

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