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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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überdies will sie es annehmen als Lehrstoff, wie sie ihn von Sister Magdalena kaum erfährt, das Nachdenken trocknet ihr die Augenwinkel aus. Bald streitet sie mit D. E. über die Lage toter Katholiken zum Altar, die Füße zum Altar und den Kopf unter den Sternen der Flagge weist sie ihm nach, so daß am Ende sie ausrufen muß: Die tragen ihn ja mit dem Kopf nach unten aus der Kathedrale!
    Sie gesteht vorerst nur D. E. den Spaß zu, den er hat mit dem Benehmen der anderen Mrs. Kennedy, der Witwe des Präsidenten, steif und still steht sie fast vier Minuten auf der obersten Treppenstufe, as sühst mi woll, mag doch die Wagenkolonne unheilbar in die Verspätung geraten, sie will ihren Anteil am öffentlichen Aufsehen, und Marie sagt schließlich doch, halb geniert, halb ärgerlich: Das möcht ihr so passen. Sie lädt doch geradezu ein zum Schießen!
    Ihr Vorrat an Andacht hat die eingeblendete Meldung aus London schlecht überstanden. Daß auf dem Flughafen Heathrow ein Mann festgenommen wurde, der des Mordes an Martin Luther King verdächtig ist, daß sie ihn gefaßt haben nach so langer Zeit, zwar endlich, aber an keinem anderen Morgen als diesem, gerade heute, eben recht zur Koppelung an das Spektakel von ihres Senators Beerdigung – es paßt zu gut, zu ausgerechnet, es kommt ihr vor wie ein Trick von Erwachsenen, die Kinder für noch dümmer halten. Die Maßarbeit stört sie, und wenn sie nicht gerade an der Wahrheit der Nachricht zweifelt, so scheint sie ihr doch beschädigt durch die Placierung. – Wir sollen abgelenkt werden! sagt sie wütend; abgelenkt ist sie.
    Auch ist sie unbedenklich ungerecht und beschimpft die Präsidentenwitwe Kennedy für ihr Verlangen nach noch einem Schuß und vermehrtem Ruhm; längst hat der amtierende Präsident Johnson den Weg von der Kathedrale in New York bis nach Washington zurückgelegt, der Zug mit dem Sarg ihres Senators steht immer noch im Pennsylvania-Bahnhof. Die Sprecher im Bild sind so verlegen, daß sie anspielen auf den Zug, der den ermordeten Abe Lincoln beförderte, sie erzählen aus der Geschichte des Bahnhofs, einer kommt auf die Umbenennung Idlewilds zu sprechen.
    – Which I undertook solely to keep New York clean: sagt D. E. unvorsichtig, gleich besorgt; sie nickt ihm nachdenklich zu, die Lippen vorgeschoben. Ihr toter Kennedy ist nicht zu trennen von der Inszenierung seiner letzten Reise, die Familie vertritt ihn, so wäre es ihm recht gewesen. – Nein: sagt Marie. Sie würde gegen den Namen Kennedy-Bahnhof votieren.
    Ihre Hartnäckigkeit hält sich noch eine Weile, ausgeschaltet wird der Apparat nicht; die Aufregung hat sie verloren. Der Vorgang ist ihr absehbar geworden. Noch oft wird sie die Aussichtsplattform des letzten Wagens sehen und den Sarg, der da auf sechs Stühlen liegt, noch oft wird die Kamera aus dem Hubschrauber ihr die beiden Züge zeigen, nur das Amerikanische an dem Schauspiel steht ihr noch bevor. Es sind drei Züge, der erste zum Abfangen von Sprengstoff (ein Reporter berichtigt seinen Versprecher »dummy train« eilfertig in den offiziellen Ausdruck »pilot train«), der dritte eine Einheit mit zwei Dieselmaschinen, für Reparaturen und die Folgen eines neuen Attentats. Aber es trifft nicht die tausend berühmten Freunde der Kennedys im Totenzug, von den Zuschauern werden zwei in Elizabeth, New Jersey, von einem Schnellzug auf den Gleisen der Gegenrichtung erfaßt und getötet. Die Beimischung von Alltag enttäuscht Marie, aber D. E. benutzt nicht das erste Anzeichen von Langeweile, erst gegen zwei Uhr beweist er ihr mit Annies vorgewärmtem Badethermometer sowie auch wahnwitziger Wissenschaft, daß nun einer Implosion des Geräts vorgebeugt werden muß. Es ist Marie, die den Knopf drückt, und D. E. zu Gefallen führt sie ihn in den Mediterenian Swimming Club des Hotels Marseille. Sie beobachtet ihn beim Verlassen der Wohnung, er verabschiedet sich von Mrs. Cresspahl mit beiläufiger Miene, nicht mit einer von Triumph.
    Auf dem Broadway ist es heiß, als würd er auch noch von unten gebacken. Eine erwartete Menge Leute trödelt geschäftig vor sich hin, die östlichen Bürgersteige sind nur von der Hitze so blitzend leer geräumt. Ohne Angst vor Fernsehkameras geht die Obere Westseite ihren Geschäften nach, Frauen mit Lockenwicklern im Haar sind zu Einkäufen unterwegs, junge Männer in Unterhemden besprechen den Tag im Schatten des Baldachins vor Strand’s Bar, ziehen mit Wäschebeuteln in die Münzwaschsalons. Was immer die

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