Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Bevor es wieder hell wurde, verzog sich der verdatterte Schläfer, und bevor jemand im Haus aufstand, hatte Frau Witte die Stelle zwischen innerer und äußerer Tür zweimal gescheuert. So war sie nun.
– Und die die Tür zugeschlossen hat, das warst du, Gesine?
– Ich stand da und konnte den Blick nicht wegziehen von dem kranken erniedrigten Zeigefinger. Immer wieder und noch einmal zwang ich mich zu denken: Nicht lachen. Oh, nicht lachen. Warum lachst du nicht, Marie.
– Solche Geschichten weißt du noch viele.
– Viele.
– Du bist sicher, daß ich etwas Falsches mit ihnen anfangen werde.
– Das fürchte ich.
– Wart es ab, Gesine. Wart es ab.
Die ostdeutschen Kommunisten wollen von den Bürgern der Bundesrepublik noch mehr Geld verlangen auf dem Weg nach Westberlin. Nicht nur sollen sie zahlen für die Spur ihrer Reifen auf den Transitstraßen, nun auch für ein Visum, seien sie arm oder begütert, Rentner oder große Fuhrherren; weiterhin geht es nicht ab ohne einen Paß fürs Ausland. Dem Strategen sind drei Gründe offenbar: Sie wünschen die Leute in der fremden Stadt zu ängstigen, sie benötigen harte Devisen für den Einkauf westlicher Maschinen und Ausrüstungen, sie tun es überhaupt wegen der nationalen Würde. So schimpflich mögen sie nicht mißverstanden werden, sie lassen eigens ausrichten: es geht ihnen um eine Strafe für die Verabschiedung der westdeutschen Notstandsgesetze, die sie nicht angehen.
Denn, gib ihnen einen ganzen Korb voll Ostereier, unbestechlich klammern sie sich an die Regeln der internationalen Diplomatie. Sie mischen sich nicht ein.
13. Juni, 1968 Donnerstag
Die tschechoslowakischen Kommunisten haben ein neues Reisegesetz in die Nationalversammlung gebracht, es fehlt nur noch der brauchbare Wortlaut für die Ausnahmen. Ausgenommen sind Bürger im Stande eines Gerichtsverfahrens, in gegenwärtigem oder künftigem Wehrdienst, Mitwisser staatlicher oder wissenschaftlicher Geheimnisse und solche, die dem Staat auf früheren Reisen Schaden getan haben. Alle anderen sollen den Auslandspaß bekommen dürfen und ohne Ausreisevisum fahren wohin sie wollen, so lange sie wollen, freundlich wird die Heimat sie begrüßen bei der Rückkehr. Hoffentlich wird die Sowjetunion nicht wieder traurig, wenn sie das in einer prager Zeitung liest, oder in der Freiheit von Halle in Ostdeutschland.
Das Wetter. Wolkenlos trocken und milde soll es heute sein; kühl in der Nacht.
– Gesine, darf ich dir eine Falle stellen? Gestern war ich ungeschickt. Heute werde ich dich hereinlegen.
– Darf ich dir auch eine Falle stellen, Marie?
– Deine weiß ich. Meine siehst du nicht.
– Mary Fenimore Cooper Cresspahl.
– Und Henriette. Los?
– Band läuft.
– Gesine, hausten die Sowjets bei euch wüster als die Briten in Indien?
– Sie zeigten das Benehmen der Besatzung. Ihrer war das Land, sie verwalteten die Macht; auch bei der Herrlichkeit sahen sie zu, daß sie nicht zu kurz kamen.
– Aber die Verlierer hatten nicht gleichmäßig Angst vor ihnen. Die, die etwas zu verlieren hatten. Die Mittelklasse. Was du »Bürger« nennst.
– Wenn die Angst hatten vor der Neuen Ordnung, so doch wenig um ihren Platz darin. Der war eingefriedet.
– Das war so ein dicklicher Zeigefinger, der von Alma Witte. Ganz weiß, und zitterte. Eine Bürgerin.
– Nein. Nimm nur die in Jerichow, die waren nicht von Witteschem Schlag. Sie wollten wahrlich alles hingeben, vornweg das Bewußtsein von der eigenen Person, wenn sie dafür nur das Geld behielten, nämlich als ein Mittel zur Vermehrung von Besitz und wiederum Geld. Das ließen die Sowjets ihnen. Nach wie vor wurden die Kartoffeln, das Korn, die Milch durch ihre Läden getrieben, noch der sowjetische Zaun ging durch ihre Kontobücher, immer noch verdienten sie an der Arbeit anderer. Nicht einmal Papenbrock war um seinen Kornspeicher erleichtert worden, den besorgte sein Verwalter für ihn, jener Waldemar Kägebein, der nun doch recht behalten hatte mit Aereboes Handbuch der Landwirtschaft. Der nahm für Annahme, Lagerung, Verfrachtung des Getreides eine Gebühr, die stand nicht nur in Papenbrocks Büchern, die war eingetragen auf der Bank. Wenn Louise für das Brot nur 43 Reichspfennige kassieren durfte, ließ sie eben Kleie untermischen, bis sie auf einen Anteil kam von dem Preis. Mir schenkt auch keiner was, das sagte sie; sie durfte friedlich denken: Viel hat mir keiner genommen.
– Den Mann eben.
– Der war ersetzt durch
Weitere Kostenlose Bücher