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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Erbgroßherzog verbrachte, dem Dom Offizerov nunmehr; der genierte sich nicht ihretwegen. In der Stadt wurde sie eingeladen zu Auskünften über Slatas Abschied, lehnte sie mit trauriger Würde ab, wie einen Gang bei Tische; wieder zog sie eine unmäßige Schneise an sowjetischem Leumund hinter sich her, sie hatte aber nur Klagen vermeiden wollen. Von einem Kind konnte sie verlangen, daß es einen beschämenden Anblick vergaß. Dazu brauchte ich nicht Gehorsam. Für mich war sie eine uralte Frau, warum sollte die nicht kranke Anfälle haben; Erholung wünschte ich ihr.
    – Gesine, die hast du auch gern gehabt.
    – Ich hab in meinem Leben viel Leute gern gehabt.
    – Gesine, kann es nicht Mitleid gewesen sein?
    – Mitleid wozu. Hätte sie geweint, wär ich zwar angesteckt worden. Ein mitleidiges Kind konnte ich nicht sein.
    – Gesine, könnte es sein, daß ich eifersüchtig bin? Auf Slata? Auf eine Besitzerin von einem Hamburger Hof in Gneez?
    – Halt.
    – Nein. Nein. Wissen will ich es doch.
    – Frau Witte wurde nicht wieder, bis aufs Äußere. Es waren nicht die Umgangsformen der Roten Armee, vor denen sie versagte. Es lag an ihr. Einmal im Frühling 1946 mußte ich sie um ein Nachtlager bitten, da war auch der Abendzug nach Jerichow aus dem Fahrplan genommen. Sie schenkte mir nebenbei Erlaubnis, denn in Alma Wittes Wohnung ging man nicht bloß mit einem Ansinnen oder einer Sache, die Umstände des Besuchs gehörten dazu. Sie nötigte mich in ihrem reparierten Salon zu einem ordnungsgemäßen Gespräch über das Fehlen des Zugs, Sabotage oder Demontage, über das Landratsamt von Gneez, über Cresspahl. Denn sie war nicht etwa ängstlich geworden. Überdies erzog sie mich in den bürgerlichen Feinheiten einer Unterhaltung, Antworten in vollen Sätzen, deutlichem Sprechen, Andeutungen an der passenden Stelle, voller Wahrheit an der gehörigen; sie kam mir heil vor. So ohne Eile, Dame in der Haltung, stieg sie mit mir gegen neun die Treppe hinunter in den ehemaligen Empfang des Hotels, da war ihr Lärm aufgefallen, den würde sie mal abstellen. Es war nichts als ein verlaufener Rotarmist, dem hatten am Bahnhof zwei Mädchen in die Augen gestochen, ein Paar von Junglehrerinnen, Gäste dieser Unterkunft, ortsfremde Küken eben, die hätten dem betrunkenen jungen Mann nur den Weg zur Kommandantur vorangehen sollen, da hätte er sein Fett bekommen und ein sicheres Nachtlager obendrein. Nun war er im Windfang des Hamburger Hofs hingefallen und fuchtelte mit der Pistole in der halboffenen Tür zur Reception hin, zwar zum Schießen zu betrunken, nämlich blind, aber immer noch angezogen von der Gesellschaft der jungen Damen, die so unerklärlich an dieser Stelle in eine Hauswand verschwunden waren. Da sah ich Alma Wittes gelähmten Zeigefinger wieder. Sie wies auf die strampelnde Gestalt im Windfang wie früher auf Falten in einem Tischtuch, Flecken an einem Messer, Zigarrenstummel auf dem Teppich, das muß aufgeräumt werden, weggeputzt, diskret beseitigt. Nun fehlte das Personal, das zusprang; nun konnte sie wieder nicht sprechen. Umstanden war die mächtige Person von zwei Expertinnen in der Pädagogik, von einer fast fertigen Volksrichterin, aus dem Speisesaal trat langsam der Genosse Schenk näher, ein Mann seinem Aussehen nach; von diesen allen aber begriff keiner, was Frau Wittes zitternder Finger denn meinte. Auch war es eine weibliche Person, die an der Wand entlang auf den Windfang zukroch, die klappende Tür zudrückte und aus vorsichtigem Knien heraus den Schlüssel umdrehte.
    – Der hätte schießen können.
    – Der bekam sein Signal von der Tür. Die Tür war zu. Die Mädchen waren weg. Nun wollte er nur noch schlafen.
    – Warum habt ihr den nicht gemeldet bei der Kommandantur?
    – Es hätte einer hinten aus dem Haus müssen, über eine schwanke Leiter von Frau Boltes Apfelkammer in den Hof, über die Mauer auf die Straße, womöglich noch so einem Irrläufer in die Arme. Der Genosse Schenk verbot es, wegen des öffentlichen Wohls. Daraufhin verbot Frau Witte es gleich noch einmal, den Zeigefinger voll Empörung auf ihn gerichtet, denn er maßte sich Hausrecht an bei ihr. Sie war nicht schadenfroh. Der betrunkene Junge hätte fürchterliche Prügel bekommen auf dem Rathaus, und nach dem Aufwachen des Dreifachen J noch eine Ration, weil er den Beschützer Slatas an ihre Wohnung erinnert hätte. Nein, Alma Witte war nicht ängstlich geworden, nicht schadenfroh. Nur den Stolz, den hatte sie eingebüßt.

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