Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Er gilt als streng, als unerbittlich geradezu in seiner Rolle des Vorgesetzten; im Hause heißt er d. R., di-Aar, mit respektvoll amüsiertem Unterton. Der Präsident, der Älteste der Familie mag im Werkfunk der Cafeteria zu vernehmen sein und findet nicht ganz die Andacht wie der Regen, der an den doppelt versiegelten Fenstern abprallt; über de Rosnys hartherzige Äußerungen wird gelacht, und ein Gerücht unter den Angestellten ist fast ehrlich der Wunsch, er werde die verdammte Hausleitung endlich umstellen lassen auf Fernsehen. Denn sie denken so an die Wahrheit heranzukommen, als ob ein de Rosny die Katze aus dem Sack ließe, bevor der Handel gelaufen ist. Noch wissen in der ganzen Bank nur drei Leute, was de Rosny mit der Č. S. S. R. im Sinn hat, und einer davon schätzt die Sache auf einen Umfang von so vierhundert Millionen Dollar, wegen dieser blutrünstigen Kreditaufnahmen auf kurze Frist, der hat davon in der Zeitung gelesen.
De Rosny gibt sich ratlos für die Angestellte Cresspahl. Er läuft ihr in sein Vorzimmer entgegen, zieht sie geradezu hastig hinter seine Tür, beginnt mit ausgreifenden Schritten auf seinem geräumigen Teppich zu marschieren. Ein Mann der nachdenkt. Ein Mann der sich wundert. Er könnte ein Lehrer sein, von jenen, die ihre Schüler zerstreut und dünnlippig überblicken, und nach zehn Jahren noch läßt er nichts ahnen von dem inzwischen angesammelten Ausmaß an Kenntnis und Freundschaft, und geht zum nächsten Punkt des Lehrplans über.
De Rosny versteht die Kommunisten nicht, insbesondere nicht die tschechischen und die slowakischen. Wie können sie hingehen und den zivilen Bürgern das Haushaltsgeld offen auf den Tisch zählen! Und obendrein sagen, was sie damit zu tun gedenken!
Die Angestellte Cresspahl findet es vorschriftsmäßig.
De Rosny erscheint es gegen die Regel. Nicht nur verfahren hier Kommunisten wie Kommunisten, sie verderben ihm auch den Markt für die Anleihe, die er ihnen unter der Hand unter die Jacke jubeln will.
Das wäre nun wieder nach de Rosnys Regeln. Dergleichen Aussprüche darf die Angestellte Cresspahl mittlerweile tun in diesem Zimmer, harmlos, Knie zusammen, den Blick aufmerksam auf de Rosnys Nasenwurzel gehalten, die Schülerin. De Rosny vergnügt sich mit einer Falle. Ob seine tüchtige Gesine Cresspahl wohl einmal rasch nach Prag fahren wolle, als Touristin getarnt, und den neuen Führern etwas über de Rosnys inneres Leben mitteilen.
Die Angestellte Cresspahl mag nicht de Rosnys tüchtiges Werkzeug sein, sie müßte eine solche Reise erst noch mit ihrem Kind besprechen, sie hat für den morgigen Tag Verabredungen beim Zahnarzt, und obendrein beim Friseur. Sie möchte nicht, und muß sagen: Gewiß. Gern. Heute nacht?
Nein. Eine Frau würden die Kommunisten nicht für voll ansehen. Nicht für einen Menschen, der sprechen darf für eine Bank in New York.
Die Angestellte Cresspahl widerspricht. Gleichberechtigung der Frau in sozialistischen Ländern.
De Rosny erinnert mit unverhofft lockerem Lid an die Statistiken, die sie auch hierüber angefertigt hat. Dann hat er sie ratlos genug und beginnt mit der Auswertung ihres Berichts vom Dienstag. Er sagt: Aber bei mir, im Solde des mörderischen menschenfressenden Kapitalismus, da werden Sie eine Gleichberechtigung erleben! Die sich gewaschen hat! Warten Sie noch knapp vier Monate!
– Very good. Warten kann ich. Sir: sagt die Angestellte Cresspahl.
Das ist nun unser Leben. Davon leben wir.
26. April, 1968 Freitag
Gestern, mitten auf dem Times Square, beging New York den Jahrestag des Aufstands im warschauer Ghetto vor fünfundzwanzig Jahren, und wir haben es versäumt. Mehr als vierzigtausend Männer, Frauen und Kinder starben nach vierzig Tagen Kämpfens gegen deutsche Truppen, und dreitausend Lebende standen gestern auf Bürgersteig und Verkehrsinsel, wo Broadway und Siebente Avenue auseinanderlaufen, und wir waren nicht da. Fünfundfünfzig jüdische Gruppen haben sich vereinigt zu dieser Erinnerung auch an die sechs Millionen Menschen, die die Deutschen anderswo umgebracht haben, und wir haben es nicht gewußt. Reden wurden gehalten, Telegramme verlesen, und ein Tenor der Städtischen Oper, die Jarmulke auf dem Kopf, sang Yiskor für die Toten, und wir wären nicht hingegangen. Es hilft nichts, seit gestern heißt die Gegend der Demonstration Warsaw Ghetto Square, und wir werden es behalten müssen.
Cresspahl machte aus den Befehlen seines Stadtkommandanten Vorschriften und Benehmen
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