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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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im Sommer nach dem Krieg. Sie hielt Abstand von den Leuten; es hatten freundliche sie ermutigen wollen und ihr die Baskenmütze abgerissen, als sei ihr Anblick nicht schlimm. Jakob tat, als sehe er nicht das Erbstück von Maurice auf Gesines Kopf, bei ihm konnte man es vergessen und merkte es erst wieder am Schweiß. Er versuchte Hilfe nicht mit Gewalt, nicht einmal mit Reden. Er schickte einen Fremden auf den Hof, der war geschoren wie ein Rotarmist, und da er die zivile Hose trug, bis zum Knie hochgekrempelt, und ein zu großes Hemd, mochte er ein desertierter Rotarmist sein, auf der Flucht, und ohne Ahnung angekommen vor einer Kommandantur. Der Unbekannte tat nicht ängstlich, er setzte sich auf die Stangen der Milchbank hinter dem Haus und wartete. Es war früh morgens, zwar in der Erntezeit, dennoch traf niemand ihn zuerst als Cresspahls Tochter. Sie ging hinaus, ins Haus, den Bettler anzumelden, er rief ihr aber hinterher. Seine Stimme war der Jakobs so ähnlich, sie begriff ihn erst, als sie mit dem Spiegel zurückgekommen war. Er besah sich im Spiegel, den Rahmen dauerhaft auf die Knie gestützt. Sie stand neben ihm. Sie sah im Glas fast gar nicht Haar, einen blanken langen Schädel, darin ein nacktes Gesicht, um die Augen ein wenig bekannt. Er sah ein wenig mürrisch drein, als mäkle er an der Arbeit des Haarkünstlers, der ihn so zugerichtet hatte. Er brauchte nichts zu sagen, sie begriff die Wette, das Kind das ich war, und nahm die Mütze ab. Im Spiegel war sie ihm voraus mit Haaren, soviel Schreck auch übrig blieb. Dann wuchsen sie mir noch einmal, die Haare.
    3. Mai, 1968 Freitag
    Nun haben die Kommunisten in Prag die vierhundert Millionen Dollar der Zentrale fast in der Tasche, und sie können eingestehen, daß es so schlimm nicht gewesen ist mit den verzögerten Weizenlieferungen aus der Sowjetunion. Im Gegenteil seien sie neuerdings reichlicher gekommen als überhaupt verabredet; da faßt die New York Times sich an die Nase. Die Regierung der U. S. A. versucht es anders herum und spricht öffentlich von ihrem Interesse und Anteilnahme für neuere Entwicklungen in der Č. S. S. R., die den Wünschen und Nöten der Bevölkerung »zu entsprechen scheinen«, ja sie würde angesichts schwindender Goldreserven und in einem Wahljahr reden wollen über die Auslieferung von Gold an ein kommunistisches Land; ungerührt sendet Herr Dubček von der Maiparade ungemeine Grüße an die U. d. S. S. R., »woher unsere Freiheit kam und wir brüderliche Hilfe erwarten können«; er läßt sich einen Streit nicht stiften. Er wiegelt ihn ab auf der anderen Seite: vielleicht werde die Č. S. S. R. mit den Sowjetdollars Produktionslizenzen in den U. S. A. erwerben. Was allerdings das Angebot der Regierung angehe, so sei es verantwortungslos und nicht annehmbar. Komm jetzt runter von der Schaukel.
    Die Stadt Jerichow saß inmitten von Weizen, dicht bei den Fischen der Ostsee; sie kam mit dem Essen nicht aus. Die Bürger der alten Zeit hätten einander helfen können, Handwerker im Handel mit Ackerbürgern; nun die Flüchtlinge in den Kammern, Bodenverschlägen und Ställen hausten, reichte das Brot nicht. Der Herr Militärkommandant wollte nicht nur ein guter Hausvater sein, auch ein stolzer, und er befahl das Einbringen der herrenlosen Ernte.
    Der Bürgermeister fing es anders an und verfügte:
    Jeder, der
    (1.) eine Sense besitzt
    (2.) mit einer Sense mähen kann
    sollte sich melden im Rathauszimmer 4, das dieserhalb zum Arbeitsamt ernannt worden war. Bis zum 12. Juli bekam das Amt Kenntnis von acht Sensen in ganz Jerichow, und die meisten waren nicht angegeben von ihren Eigentümern, sondern von schadenfrohen Nachbarn. Zum Mähen kamen zehnmal soviel Leute wie Sensen, fast alle Frauen, Flüchtlinge eine wie die andere, und alle wollten sie mähen können, hatten noch die kleinen Kinder mitgebracht, zum Garbenbinden, zum Stehlen von Ähren. Es war eine scheckige Versammlung, mit Fetzen bekleidet, manche wollten es barfuß aufnehmen mit den Stoppeln, und alle hingen sie schwach in den Gräten vor Hunger. Eine Flasche voll klaren Wassers und die Aussicht auf eine Handvoll Körner, das war das Vesperbrot. Cresspahl erinnerte sich an den schweren Schwung, den die Sense aus den Schultern reißt, er durfte vor solchen Leuten nicht seufzen. Er führte diesen Haufen Fußgänger vor die Stadt an ein ehemals ritterschaftliches Feld, er mähte ihnen eine Bahn an, eine Hektarkante lang, dann zog er die Jacke aus und sah sich um.

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