Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
tränenreichem Auftritt, und so hielt er fast mit Behagen den Kopf schräg gegen den abendlichen Himmel und suchte nach der Zeit. – T’is negen: sagte er, auf die Nähe der Ausgangssperre verwies er sie, der Sowjetsklave, statt unter dem Unglück der Familie zu wanken, und sie ließen ihn allein die Stadtstraße hinuntergehen. Er hatte ja nicht einmal eine Auskunft gegeben. Neun Uhr war es allerdings. Unverhofft war die Zeit auch zu riechen, süß, nicht nahrhaft, leicht fettig, vom Duft der Lindenblüte.
Denkt man sich Jerichow als den Mittelpunkt einer Uhr (wohin das Hydrographische Institut auf den Karten der Lübecker Bucht die Windrose setzt), so wäre das Dorf und Seebad Rande ungefähr an der Stelle von ein Uhr. Von Jerichow aus nach acht Uhr gedacht, aber weit über den Rand des Ziffernblattes hinaus, lag das Gut Alt Demwies, im Südwesten noch von Gneez, im Fürstentum Ratzeburg von ehemals, weit genug entfernt von Jerichow. Wer sein Telefon versteckt hatte, statt es abzugeben, kam damit doch nicht an eine andere Sprechstelle, die Post hatte noch nichts auszutragen, die Reisesperren taten das Übrige, und so galt Albert Papenbrock noch lange als verschollen. Erst Ende 1945 sprach sich in Jerichow umher, daß auf Alt Demwies in der Ferne einer den Verwalter für das Sowjetgut machte, der hieß Papenbrock. Wenn den Berichten zu glauben war, so betrug er sich nicht wie ein Greis von siebenundsiebzig Jahren, er fuhrwerkte mit den Landarbeitern wie ein Inspektor aus den alten Zeiten, er führte auch mit seinen sowjetischen Vorgesetzten eine Sprache, als hätte er keinen Dreck von den Nazis am Stecken, schüchtern war das nicht. Und wenn dir einer beschrieben wird bloß mit Worten, erkennst du ihn gleich? Angeblich war der aus der Gegend der Müritz zugewandert, vielleicht nicht der Papenbrock von Jerichow. Cresspahl konnte man nicht fragen, Papenbrocks Frau stellte sich unwissend, am Ende war er jener nicht. Wenn die Sowjetische Spionageabwehr auf Besuch kam in Jerichow, so bekamen die Dolmetscher fast immer die glaubwürdig entsetzte Antwort: Den habt ihr doch längst gekascht! Schreibt ihr denn nich mal auf, wen ihr so hochnehmt?
Jakob ging Anfang August eine unmäßige Schleife von Lübeck über Alt Demwies nach Jerichow, dann konnte er Gesine etwas von ihrem Großvater erzählen. Sie würde ihn nicht leicht erkennen. Er trug nun die ganze Woche lang ein zusammengestoppeltes Zeug, mit Rissen im Hemd oder scheckigen Flicken auf den Hosen. Auf dem Kopf hatte er einen Hut aus schwarzem Stroh, den nahm er nicht ab, so daß seine Glatze nicht bekannt war. Die Kommandanten von Alt Demwies, genannt die Zwillinge, hatten seinen Namen nicht verstanden und nannten ihn den Popen; er wehrte sich nicht. Im Dorf hieß er der Pastor, weil er so milde sprechen konnte bei der Arbeitsausgabe am Morgen und so wild toben am Abend, wenn das Pensum nicht erreicht war. Das Gut war Jakob vorgekommen als fast nach dem Muster geführt, die hatten ihr Korn von den Feldern und fingen schon an zu schälen. Die Landarbeiter achteten den P. dafür, sie waren unter ihm versorgt mit Deputat und Wohnrechten wie unter der geflüchteten Herrschaft; sie wünschten ihn kräftiger auf ihrer Seite. Er ging jedem Streit mit den Zwillingen aus dem Wege, wie nur je ein Angestellter. Nachts gingen die sowjetischen Mannschaften spazieren in den Gesindekaten und leuchteten die Betten nach großjährigen Mädchen ab und fanden da nur die kleinen Kinder; man konnte es diesem Inspektor vorstellen, er schickte einen doch zu den Kommandanten, den beiden jungen Kerlen, die ohne einander nicht zu finden waren und gemeinsam lachten über die nächtliche Störung. Die Armisten waren einmal empfindsam geworden beim Anblick vieler schlafender Kinder dicht an dicht, lange hatten sie davor gestanden und sie angeleuchtet, immer wieder verwundert über die Kinderchen, wie die Erbsen liegen sie da, wie die kleinen Erbsen in der Schote schlafen sie; dieser Familie wurde ein Zimmer im Gutshaus angeboten, weil die Zwillinge Platzmangel verstehen wollten und nicht was jener Pastor ihnen besser hätte sagen können. Für die Tageszeit hatte der Pope sich von den Zwillingen eine Gutspolizei aus Rotarmisten aufstellen lassen, eben damit er die Arbeit zu Rande bekam; nachts schloß der sich ein und hörte das wildeste Klopfen nicht. Die Sowjets hatten ihn in den Katen des Vorschnitters getan, in den vollständigen Haushalt des ehemaligen Ortsgruppenführers, der sich mit
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg