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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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schief am Leibe, zu hoch im Nacken, zu hoch über den Knien. Manche berührten einander, hielten den Nachbarn am Sitzen, sie mochten so hingerutscht sein. In der Nordwestecke waren zwei zusammen, als hätten sie selber so sich niedergelassen. Es war ein junger Mann, der Gesine zweiundzwanzigjährig vorkam, schwarzhaarig mit langen Koteletten, in einem sauberen schwarzen Anzug mit Hemd und Schlips, ein Städter, dem die Schuhe abhanden gekommen sind. Sein Kopf war zur Seite gewandt, als blicke er an die andere Wand. Da, jedoch sehr dicht bei ihm, lag ein Mädchen halb hingesunken, eine Blonde mit hochgesteckten Haaren, ganz sommersprossig, und sie war dem Jüngling halb in den Schoß geglitten, und so beruhigt ihre Lage war, seine Hand auf ihrer Schulter schien um ein Weniges verlegen, und nicht freiwillig. Sie sahen plaziert aus.
    In der Halle war noch ein Huhn, das der Kommandantur entlaufen war. Es war ganz lebendig. Es hatte neben den Hosentaschen der Toten Korn gefunden, pickte aber auch an dem nackten Fleisch in seiner Verwunderung.
    Die Leichenhalle hatte ihre Fenster in den Seiten. Von rechts oben kam frühe Sonne und beleuchtete die Kapelle wie ein Wartezimmer, keinen darin mehr als das Liebespaar.
    Gesine war nur mit einem halben Schritt in der Kapelle gewesen, und nicht länger als Sekunden. Sie fühlte sich angesehen von überallher, und trat gleich zurück. Dabei stieß sie an den Toten, dessen Schuh ihr aufgefallen war. Den hatten die Spaßmacher vergessen, er lag als einziger mit dem Gesicht im Kies.
    Es war nicht nötig, daß sie zum Haus zurücklief. Im Gehen ließ sich bequemer überlegen, was nun von ihr verlangt war. Sie wußte, daß sie nun eine Handlung schuldig war; sie ahnte nicht welche. Als sie das Frühstück verweigerte, und so das Essen durch den ganzen Tag, bekam sie dennoch ihr Gewissen nicht zahm. Sie hätte ohne Beschwerden essen können, sie fühlte sogar Appetit, wenn auch abends nicht Hunger. Ihr war, als hätte sie die Versammlung der Toten betrogen.
    Cresspahl sah die arrangierte Szene auch, und mittags ließ er sie abfahren und die Halle vernageln. Jerichow hatte längst den anderen Friedhof, den K. A. Pontij befohlen hatte, auf der linken Seite der Rander Chaussee zwischen Stadt und Fliegerhorst, enteignetes Gelände der Ritterschaft. Es war nicht eingezäunt, aber Pastor Brüshaver hatte sich da aufgestellt und die Dinge und Worte geleistet, die ihm zu einer Weihung nötig schienen. Dahin kam man vom Land her auf einem Weg um die Stadt herum, zweieinhalb Kilometer, vielleicht eine halbe Stunde länger mit einem Pferdewagen.
    Heißt heute Städtischer Zentralfriedhof. Ist niedrig mit Feldsteinen eingemauert, mit Dornbüschen dahinter umpflanzt. Die Kapelle, 1950 gebaut und viel solider als eine Garage, ist von der Chaussee nicht zu sehen.
    Die alte, bei Cresspahls Haus, ist abgebrochen und ersetzt durch ein Ende weißer Ziegelmauer zwischen den roten Steinen von 1850. Und der Kirchfriedhof gilt als sehenswert, weil fast unberührt seit mehr als zwanzig Jahren.
    Später mußte es eine Ehre sein, wenn ein Mensch doch bei der Petrikirche in die Erde durfte. So kam Cresspahl da zu einem Grab bei seiner Frau, als ehemaliger Bürgermeister der Stadt, und zu seinen Lebzeiten konnte er es zuwege bringen, daß Jakob da ein Platz gegeben wurde, in seiner Nähe.
    Un dat heit doch Schott, Gesine!
    Krett heit dat.
    Schott.
    Krett.
    Du hest toierst lacht.
    Hest du.
    6. Mai, 1968 Montag
    Gestern, zum hundertfünfzigsten Geburtstag von Karl Marx, nahm die New York Times teil an den Festlichkeiten um sein Geburtshaus in Trier. Die Studenten riefen »Ho-ho-Ho-tshi-minh«, als der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Hausbesitzer, es betreten wollte. Die Ostdeutschen machten ihre eigene Veranstaltung. Bei der anderen trug Ernst Bloch vor, es seien viel Fehler begangen worden im Namen von Marx. »Manche Leute wissen nicht nur nichts über Marx, sie erzählen auch noch Lügen über ihn.«
    Personen einer Handlung:
    Monsieur HENRI ROCHE-FAUBOURG , Teilerbe einer französischen Bankhandlung. Einundzwanzig Jahre alt, Gewicht 62 Kilo, Hautfarbe weißlich gelb, Rasse kaukasisch, schwarzes, an den Spitzen geborstenes Haar, das in Locken wie ineinandergelegt über den Hemdkragen kriecht. Franzose, Absolvent einer Eliteschule in Paris. Angefangenes Studium der Rechte und der Volkswirtschaft. Zu einem Pflichtjahr in New York. Eine Persönlichkeit, die beleidigt ist, wenn er von einem new yorker

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