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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Frau und Kindern erhängt hatte; der Pope hatte den Vorteil oder die Ehre nicht haben wollen und sich zwei Flüchtlingsfamilien in die engen Kammern geholt, als wolle er nachts nicht allein sein. Jakob hatte den Alten nur von fern gesehen, er war ihm fahrig vorgekommen, und Jakob mochte ihn nicht mit Besuch aus Jerichow erschrecken. Überdies hatte Cresspahl ihm keine Nachricht für den Alten mitgegeben.
    Papenbrock hatte sich kaum gesträubt gegen den Handel. Er war sicher, er könne jedem sowjetischen Gericht erklären, was er in den letzten zwölf Jahren getan hatte, selbst einem militärischen. Nur hatte er auf Cresspahl lieber gehört als auf die eigenen Söhne, schon seit 1935. Das hatte seit Lisbeths Tod zugenommen, und war fast Gehorsam geworden, als ihm im Juni 1945 auffiel, daß er sich nicht mehr aus eigenem entschließen konnte, nicht zum Eingraben in Jerichow, nicht zur Flucht über die Demarkationslinie zu den Briten. Louise hatte das Haus halten wollen, wenn schon nicht das Geschäft, womöglich noch die Bäckerei. Papenbrock war nicht aus solcher Einsicht geblieben, nicht einmal ihr zuliebe, nur weil ihm das Vertrauen fehlte, seine Louise mit Gewalt wegzubringen. Da kam Cresspahl und kündigte an, daß die Sowjets suchen würden nach dem Vater von Robert Papenbrock, der in der Ukraine für die Hinrichtung von Geiseln bekannt geworden war. Also ließ der Alte sich verschicken an einen Ort ganz dicht an der Grenze. Also konnte K. A. Pontij bei der Leitung des Gutes Alt Demwies gewisse Lieferungen fordern, er hatte dahin eine Aufsichtsperson mit ausgezeichneten landwirtschaftlichen Kenntnissen vermittelt.
    Dat kümmt werre, sä de Buer, un gew sin Schwin Speck.
    8. Mai, 1968 Mittwoch
    Die Stadtverwaltung ist gewappnet für Aufstände im Sommer; sie kann die Zahlen auch besser abschätzen nach den Verhaftungen an der Columbia-University. Es gibt 196 Isolierzentren in Gerichtsgebäuden und ein Sondergefängnis auf Rikers Island, das faßt allein 1600 Aufrührer. Insgesamt könnte die Polizei 10 000 Ungehorsame am Tag festsetzen, und mit mehr will sie wohl fertig werden.
    Senator Robert F. Kennedy hat in der Vorwahl von Indiana seine erste Station auf dem Weg zum Stuhl des Präsidenten bestanden, zwar nicht mit soviel Stimmen wie er wünschte, bloß 42 Prozent. Eugene McCarthy bekam 27, der kann seinen Helfern gerade noch ein Taschengeld zahlen. Dennoch, nach einer Umfrage auf den Universitäten, ist McCarthy den Studenten um gut ein Viertel lieber als Kennedy, der auf sein eigenes Geld verweist und das Recht, es auszugeben nach Belieben, nämlich einen Sieg zu kaufen.
    In der Cresspahlschen Tür steht ein junger Mann, kurzhaarig und innig der Tradition zuliebe angetan mit gebügeltem Hemd, das in der Hose steckt, mit knallweißen dickriefigen Socken in militärisch gewienerten Schuhen; freundlich und ohne Drängelei blickt er auf den gedeckten Tisch, auf das beruhigte Familienleben vor den abendlichen Fenstern, dem grün nachdunkelnden Park, er besteht nicht auf einer Einladung, er kann uns seins auch im Stehen sagen –
    Daß wir doch das Land verstünden, in dem wir leben wollen! nach sieben Jahren. Den Wahlkampf von 1960 bekamen wir noch als Anekdoten nach Deutschland, Nixons starken Bartwuchs, der ihn auf dem Bildschirm abfallen ließ gegen John Kennedy in einer einst vielberedeten Debatte, diesmal nicht über Küchentechnik; den Präsidenten Kennedy fanden wir vor und wollten erst einmal loben, daß er auf den Fragebogen die Erkundigung abgeschafft hatte, ob wir ihn denn meucheln wollten. Wir haben dann gelernt. Gelernt, was ein Parteirevier ist und was ein Bezirkskomitee kann, wie einer ein Vorgezogener Sohn werden kann und was die Werbeminute im Fernsehen kostet, bis sie umsonst verschickt wird als Nachricht, die ganze hiesige Folklore des kapitalistischen Parlamentarismus, ohne Hoffnung, nur daß wir wüßten, wo wir sind, wofür wir wären, glaubten wir daran, für wen wir wären, vertrauten wir ihm.
    Dies Mal soll es Eugene McCarthy sein, hören wir auf die neue Generation, die Kinder nicht mehr der Blumen sondern des Stimmzettels, die ballot children. Seit dem Marsch für die Bürgerrechte in Mississippi 1964 hat es unter den Studenten einen solchen Anlauf nicht gegeben, der demokratische Prozeß galt nichts gegen die Verabredung der Exekutive mit den Vierhundert Familien, es gab da noch die Neue Linke, man konnte noch weglaufen in die psychedelischen Verschönerungen und Verwüstungen des

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