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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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zugezogen.
    Der Generaldirektor ist nicht zufrieden mit der Geduld seiner Auftraggeber, redet gemütlich vor sich hin, wieder wie in einer Familie, am Mittagstisch, im Gespräch mit seinen Kindern zwischen den Gängen. – Ich wünschte: sagt er: heut wär die Frau da, die ’67 gegen mich gestimmt hat, mit ihren fünf Aktien. Ich wünschte, wenigstens die wär da! Dann kann er endlich den Bleistift weglegen, den er unterdessen mit einem Sackmesser der schweizerischen Armee anzuspitzen versucht hat, und die Wahlergebnisse durchlesen. Bekümmert schüttelt er den Kopf, setzt eigens eine Brille auf die Nase, um darunter hervor die Anwesenden mit Vorwurf zu betrachten. Er sagt: Eine einzige Stimme gegen mich, was soll denn das heißen!
    Es werden nochmals die Namen der anwesenden Direktoren und Angestellten verlesen. Die Direktoren sind gehalten, sich zu erheben, die Angestellten dürfen sich nur mit Nicken zeigen. Das Schlußwort hat ein enttäuschter Chef, mit viel Kraft und Kampfesmut ist der Mensch hergekommen, fast nichts davon hat er verbrauchen dürfen, nun steht ihm nichts bevor als ein Mittagessen von vielen. – Also dann bis zum nächsten Jahr.
    Am Ausgang paßt er die Angestellte Cresspahl ab und fragt sie nach ihrem Namen. Er gibt sich als jemand, dem ist das Unschickliche seines Betragens schmerzlich bewußt, es muß aber doch sein.
    – Sind Sie die eine Stimme, die gegen mich war? fragt er, vertraulich, vorfreudig. Mit seinem breiten Rücken blockt er diese Dame ab gegen die anderen Teilnehmer, nur wenige, abschätzende, Blicke dringen bis zu ihr durch.
    – Nein: sagt die Cresspahl, und erklärt ihm ihren Status nach der Geschäftsordnung. – Ich durfte ja nicht: sagt sie.
    Gegen vier gibt sie ihren Bericht über die kleine Versammlung von de Rosnys Freunden ab bei Mrs. Lazar, und ehe er noch abgegangen ist, zehn Minuten später wird sie mit de Rosny verbunden. – Grüßen soll ich Sie auch! sagt er, und an diesem Tag ist das Telefonnetz so ausgeruht, man kann die quietschvergnügte Stimmung des Chefs mithören. – Sie sollen eine Wucht gewesen sein! sagt er. – Sie konnten es ja längst, Sie Naturtalent!
    Solche Ansichten gelten in diesem Hause über die menschliche Natur.
    14. Mai, 1968 Dienstag
    Der neue Wirtschaftsrat der Č. S. S. R. bespricht den Plan, die Krone demnächst konvertierbar zu machen, nicht erst in fünf Jahren. Es wäre die erste Währung des Ostblocks, die auf den kapitalistischen Markt dürfte; es sieht aus nach Streit. So könnte das Land in eigenem Geld bezahlen, so brauchte es keine Dollar-Anleihe mehr, und die Angestellte Cresspahl müßte nicht versetzt werden weg aus New York.
    Cresspahl dachte mitunter, wegzugehen aus Jerichow. Nicht K. A. Pontij, sondern er würde ins Gefängnis müssen für die Straftaten, mit denen er die Befehle des Herrn Stadtkommandanten ausführte, von der verrutschten Buchführung bis zum Schwarzhandel im Amt, mal zu Gunsten mal zu Lasten der Stadt. Nur, er sah nicht voraus, daß Pontij sich vergessen würde bis zu einer Absetzung des Bürgermeisters, wenn es doch zum Erschießen immer wieder nicht reichte. Er hatte nicht viel mitzunehmen in den Westen, eben das eigene Kind, und die Hanna von Ohlerichs, wenn sie wollte; zumindest wollte er wissen, wohin er sie brachte.
    Das sagte ihm einer, der stand an einem Sonntagnachmittag, schon im August 1945, an der Pumpe wie aus der leeren Luft gewachsen. Das war ein Mann in meines Vaters Alter, aber schmächtig in der Statur wie ein Junge von achtzehn Jahren, seine Haare waren aber nicht weiß vom Wegstaub. Er fragte Cresspahls Tochter, ob er sich wohl ein wenig Trinkwasser abnehmen dürfe. Solche Höflichkeiten waren ihr lange nicht vorgekommen, und sie will ihn gleich für einen aus Cresspahls Gegend angesehen haben. Sie schüttelte den Kopf und ging in das steinkühle Haus, ihm einen Becher voll von da zu holen. Er stand da wie vorhin, und beim Trinken sah er sie an, als müsse ihm der Blick über die Nasenspitze springen, so fältelte er sie. Unbegreiflicher Weise fragte er dann nach der Uhrzeit, und als Gesine in den Himmel sah, ließ er sich auf den Pumpenstein nieder, seufzend über Beschwerden des Alters, die er aber nicht hatte. Der trug seine Armbanduhr kurz oberhalb des Fußknöchels, dem fiel was ein, und durchgekommen war er auch, auf dem ganzen Weg über die Grenze. Nun erkannte sie ihn als Erwin Plath, nicht so sehr als den Gast bei einer Beerdigung 1938, sondern als eines von Cresspahls

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