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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Jude aus Osteuropa.
    Die Ostdeutschen haben der Č. S. S. R. einen Brief geschrieben. Es heißt da: »Die Opfer des deutschen Faschismus in Buchenwald, Maidanek und Mauthausen wie Lidiče sind Warnsignale, die einen abhalten sollten von Illusionen über die Möglichkeit einer Kooperation mit dem deutschen Imperialismus.« Radio Prag fühlte sich behindert durch die Millionen Toten, die hinter diesen Namen liegen, sonst sei es in einem gründlichen Sinne würzig, daß einem die Opfer der Konzentrationslager ausgerechnet von Berlin aus ins Gedächtnis gerufen werden. Das war vorgestern.
    Heute hören wir aus Moskau noch einmal, Thomas Masaryk, Gründer der Č. S. R., habe 1918 einem antibolschewistischen Terroristen 200 000 Rubel gezahlt, damit der Lenin umbringe. In Prag wollen sie eine Straße neu nach Thomas Masaryk nennen.
    Mrs. Ferwalter kümmern die tschechoslowakischen Nachrichten nicht mehr, sie hat schon im März solche Sachen abgetan mit einer wegwerfenden Bewegung, und da sie beide Hände dazu nahm, schien sie etwas Schweres und Gefährliches heftig von sich zu werfen. Das mochte so aussehen wegen des reizbaren und angeekelten Ausdrucks, den sie nicht wegkriegt von ihren Mundwinkeln, und lächelt doch dazu. Heute paßte sie uns ab, als wir aus »ihrer« Bäckerei kamen, und das Gesicht war ihr ganz aufgegangen in einer freudigen, nur noch wenig starren Grimasse. – Mrs. Cresspahl! rief sie. – Marie, meine gute Mariechen! rief sie, so dringend wollte sie ihre Glücksbotschaft mit uns teilen. Sie hat nicht einen ihrer verschollenen Verwandten wiedergefunden, auch ist ihrem Mann nicht das Gehalt erhöht worden für die Knochenarbeit im Schuhgeschäft; es ist bloß, sie hat ihre Papiere.
    Sie muß es uns sagen, wir gehören zu den Freunden der Familie, und über dies haben wir geholfen. Wir konnten im Park sitzen und die Fortschritte der Kinder in der Schule besprechen, oder die Brotpreise, manchmal wandte sie uns ihre große freundliche Masse frontal zu und sagte unverhofft, mit listigem Zwinkern: 1776? und wir haben ihr bestätigt, daß die Staaten in diesem Jahr ihre Unabhängigkeit erklärten. Auch haben wir ihr die Zusätze zur Verfassung abgehört, wer General Grant war, und wie ein Präsident zustandekommt, und jeweils von neuem fiel sie in ein anderes Gespräch mit einer Kenntnis, die ihr wiederkam. Oft war sie mutlos, eine alte Frau, das Gehirn zerpflügt von Nervenzucken und Schlaflosigkeit, nicht mehr zum Lernen imstande, und ließ sich trösten wie ein Kind. Wenn es uns nicht gelang, verabschiedete sie sich mit langem Händedruck, das Gesicht beiseite, ging traurig und ungelenk davon auf den Beinen, die die Deutschen und Österreicher ihr kaputt gemacht haben; sie konnte aber auch anfangen mit versteckter Vorfreude, die ihr die Lippen zum Lächeln weitete, bis ihr ganzes feistes Gesicht durchgeknetet war von dem Vergnügen an einer Staatsbürgerschaft der U. S. A. Nun hat sie seit gestern ihre zweiten, dritten, vierten Papiere.
    Sie mochte den Genuß daran nicht geradezu eingestehen, als brächte das Gefahr für ihn; sie sprach von steuerlichen Vorteilen. Sie konnte nicht verbergen, daß die Aussicht auf den amerikanischen Paß ihr bevorstand wie eine neue schützende Hülle, noch ein Bollwerk gegen die Vergangenheit.
    Auch ihr Deutsch sollten wir verbessern. Es war nicht leicht; vielleicht fällt selbst ihr nicht auf, welches unter ihren Worten denn nun aus dem jiddischen, tschechischen, amerikanischen, hebräischen, deutschen Vorrat kommt, und ganze Sätze in nur einer Sprache gelingen ihr selten. Wir haben ihr den »Deutschen Bund« ausgeredet, damit sie an die Bundesrepublik Deutschland glauben lernte, und wir haben sie gewarnt, zu sprechen von einer Liebelei mit ihrer Tochter Rebecca, nicht einmal eine Liebschaft mit dem Kind haben wir ihr belassen, obwohl es doch genauere Worte sind für die Liebe, die sie für die Letztgeborene unterhält. Aber wir haben doch den Mund gehalten zu der Anrede Meine sehr geehrte Frau Cressepfal, wenn sie damit eine Freundschaft ausdrücken wollte, und Marie läßt sich titulieren als liebe Mariechen, so gründlich sie schon den Diminutiv haßt; mit einigen Anredeformen im Deutschen wird sie sich weiterhin vertun. Hoffentlich verlangt die Botschaft der Westdeutschen nicht dergleichen.
    Denn wenn unsere Mrs. Ferwalter eine Bürgerin der U. S. A. wird, darf sie von den Westdeutschen eine individuelle Entschädigung verlangen; an einer Staatsangehörigen Israels,

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