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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Mal wurden wir eingeladen in ihre Wohnung, zu einem »echt jewropeischen« Kaffee, auch zum Betrachten der Bürgerpapiere. Und wird Marie die Milch heiß trinken oder kalt?
    Sie kam von ihrem neuen Stand doch wieder auf die Heimat. Die Juden in der westlichen Č. S. R. seien zwar assimiliert gewesen wie die in Deutschland, zum Beispiel. »Moritze«. In Mrs. Ferwalters Dorf jedoch lebten sie für sich, waren als Gruppe allein, immerhin geachtet. Unter Thomas Masaryk, wovor sollten sie Angst haben? Aber die Deutschen konnten sich einer fest gegliederten Gesellschaft bedienen, da gab es keine Verstecke. Und sie sei vor den Deutschen gar nicht erst geflohen, im Glauben, es sei doch ein jeder längst erfaßt. Auf die Ungarn war kein Verlaß. Sie werde zu den Tschechen nicht zurückgehen, nie zu den Slowaken, nicht einmal mit einem amerikanischen Paß.
    Da fiel ihr wieder ein, daß ihr nun ein Paß der U. S. A. zusteht, und weil Marie ihr am nächsten saß, wurde sie ausführlich umarmt.
    – Die Freude: sagte Mrs. Ferwalter, fast in Tränen. – Die Freude!

16. Mai, 1968 Donnerstag
    Gestern abend stand in der Ubahnstation 96. Straße, auf einem Werbeplakat im tiefsten Gang, noch geschrieben: SCHEISSE AUF DIE JUDENSCHWEINE . Heute ist das Wort JUDEN weggekratzt.
    Die New York Times befaßt sich mit den ökonomischen Nöten der Č. S. S. R., beginnt mit Moskaus Ehrabschneiderei gegen Thomas Masaryk und nennt sie schändlich. Sie sagt das nicht als Nachricht, ausdrücklich als eigene Meinung, irgend jemand muß ja die Stimme von Zucht und Sitte erheben. Eine Beteiligung der Vereinigten Staaten an der Behebung der tschechoslowakischen Wirtschaftskrankheiten hält sie für vorläufig nicht wahrscheinlich, da mag sie sich irren. Die alte Dame stellt der Regierung Ersatzhandlungen vor, Tarifprivilegien und das einbehaltene Gold betreffend. Moralisch sei die Benutzung des Goldes als Druckmittel immer schwach gewesen. Nun gebe es noch einen politischen Grund dagegen, einen überwältigenden. Will sie der Regierung in Moskau noch mehr Grund zum Mißtrauen verschaffen?
    Im August 1945, mitten in der Woche, nahm Herr Dr. Kliefoth sich zwei Tage frei. Er war eigens nach der Arbeit aufs Rathaus gekommen, Cresspahl saß vor seinen Schreibereien, Kliefoth bekam seinen Urlaub nebenbei, auch Leslie Danzmann hatte ihn nicht genau angesehen. Später erinnerten beide sich an ein winziges Zögern Kliefoths an der Tür, und dann wußten sie auch, was er hätte sagen wollen.
    Dr. Kliefoth mußte nicht auf die Felder. K. A. Pontij hatte ihm ein für alle Male Lebensmittelkarten freigeschrieben, ohne Nachweis von Arbeit. Denn Kliefoth war den ersten Abgesandten der Roten Armee in der Ausgehjacke der deutschen Wehrmacht entgegengetreten, vorschriftsmäßig angetan mit sämtlichen Orden und Ehrenzeichen, wie den Briten auch, nur dieses Mal fertig zu einer Verhaftung. Der Herr Stadtkommandant ließ sich den eigensinnigen Menschen nicht etwa vorführen, er ging da mit großer Begleitung zu Besuch. Es wurde kein Verhör, eher ein Ehrengericht, anders wollte Kliefoth es nicht nennen. Die Herren unterhielten sich über den Ersten Weltkrieg, in dem Kliefoth Leutnant gewesen war, und über den Zweiten, in dem er nichts weniger als die Aufgaben eines Ic an der Ostfront wahrgenommen hatte. Es soll zu einem Händedruck gekommen sein. Danach ließ Pontij zwar nicht einen Schutzbefehl an Kliefoths Wohnung heften, Plünderer hatten da schon mehr herausgeholt als eine in Fachkreisen sprichwörtliche Münzsammlung; jedoch war die Fortzahlung der Offizierspension als eine städtische Ausgabe verordnet, und Cresspahl durfte die Wohnung der Kliefoths nicht mit Flüchtlingen belegen, Pontij bestand darauf. Frau Kliefoth hatte die Hakenkreuzfahne an den verordneten Tagen herausgehängt, wie alle Bürger von Jerichow, nun war deren Erwartung gekränkt, und es kam Pontij zuverlässig zu Ohren. Pontij warf noch anonyme Briefe weg, und wollten sie ihm eine Mitgliedschaft Kliefoths in der Nazipartei einreden, er vertraute dem Wort des Waffengegners. Pontij sprach von dem großen, ehrenhaften Militaristen in seinem Befehlsbereich nicht ohne Stolz, er erkundigte sich nach ihm. Er schüttelte den Kopf, als der aufrechte Militarist aus freien Stücken Obdachlose in drei von seinen vier Zimmern nahm, und als er noch mitging auf die Felder, brütete K. A. Pontij etwas Finsteres in sich hinein und gab rachsüchtige Zungentöne von sich, weil der reinkarätige Militarist die

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