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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Spezialtruppen als Besatzung und eine KOMINFORM im Warschauer Vertrag erspart bleiben, sollen sie im Juni Manöver auf ihrem Boden erlauben. Die ostdeutschen verwerfen die Stationierung von befreundeten Truppen in der Č. S. S. R. als westdeutsche Hetzerei, und zur Überführung des Sozialismus in die Gegenwart wissen sie überdies Auskunft: »Das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen«; die Geschichte als Seiltrommel, die Vergangenheit aufwickelt, unwiderruflich, auf Ewigkeit. Vorwärts!
    26. Mai, 1968 Sonntag
    Was Marie mir gestern zeigte von Staten Island, Stadtbezirk und Kreis Richmond;
was du weißt, Gesine; noch einmal muß ich es nicht sagen.
    Nach der einstöckigen Ziegelwüstenei an der Nordküste der Insel, am Park Silbersee doch noch Bäume, Landschaft, schonend abgerichtet zu Spalier und Windschutz. Sanfte Straßenbuckel, duldsam gegen die Schwingungen des Landes. Noch Landhäuser von ehedem, treuherzig bewehrt mit Säulenvorbauten, Griechischem aus Holz. Veranden im Laubschatten, in der Hitze dunkle Fenster, dahinter stille, knackende Zimmer. Gehäuse in bunter Klinkerverschalung, mit säuberlich eingeschnittenen Rahmen in Weiß. Hohe Äste, abgefressen vom Atmen des Atlantik, füllige flüsternde Laubwolken. Versammlung der Möwen auf Schindeldächern in Lee. Freileitungen an grob behauenen, oft schiefen Stangen, aus der Zeit einer bescheidenen Technik. Gras zwischen den Gehsteigplatten, hoch wucherndes Kraut und Gebüsch um die Treppen. Abfallende Gärten, kühl, wild umwachsen. Nachbarschaften. Wie hier zu warten wäre am Fenster, in der dunstigen verdeckten Luft des frühen Sommers, später warm im kahlen näßlichen November.
Hier hast du Leben auf dem Lande, Mecklenburg, California; bleib hier, Gesine. Hier, sobald ich kann, kauf ich dir ein Haus.
    Die Züge der SIRR quer über die Insel erreichen das Geräusch nicht, das ihr Name macht. Die Schnellbahn von Staten Island wollen sie sein, Verwandte der Eisenbahn Baltimore & Ohio; eine ruckelnde, schatternde Vorortlinie sind sie. Wacklige Wagen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die jede Meile halten an schmalen Plattformen unter knappem Dach. Fahriges Geläute vor den Straßenübergängen, hohles Geheul vor den Stationen; tapfer fährt die Kleinbahn, als ginge es in einem fort zum Golf von Mexico. An einem der engbrüstigen Brückenhäuser erwischt der Blick eine Jahreszahl, zu feierlich eingelassen in eine Schwelle aus Beton: 1933. Struppiges Gebüsch dicht an den Stromschienen.
Fang hier an, Gesine; bleib hier.
    Die Verrazano-Brücke schickt breite Fahrbahndecken über den Einschnitt der Bahn nach New Jersey. Von Oude Dorp, Arrochar an hängen kleine Flugzeuge in der Luft, Kostgänger des Landeplatzes an der Richmond Avenue, an den Bächen zum Arthur Kill hin.
Hier könntest du weg und wir dich besuchen, zu Lande, zu Wasser, zu Luft.
    Das Fährhaus an der Südspitze der Insel ist noch hohler geworden, die Bretter fallen ihm aus, die Pfahlwände im fauligen Wasser stehen schief. Das Wasser hat sich nahe an den Bahnhof Tottenville herangewühlt, kaut am Abfall, nährt den Rost und den Schlamm. Zur Fähre nach Perth Amboy hin ist der Bahnhof Tottenville gebaut, an jenem Ende war Stille, hart gefaßt in Maschendraht, als sei schon lange kein Boot mehr unterwegs nach New Jersey, und soll doch gekommen sein seit den Zeiten der Kolonisten. Reglos wartete das andere Ufer, Kräne, Lagerhäuser, eine Kirche, blitzende Dächer zwischen Laub, starr in der mittäglichen Hitze. Über den Arthur Kill stand im Norden eine Stelzenbrücke, angehalten im Schritt einer gichtigen Katze. Bauschutt, Öltonnen, Schrott am Strand, splittrige Pfähle im Wasser, weiter draußen Sportboote und Fischerkähne im Gegenlicht. Immer wieder Vegetation, die das kranke Land zurückholt, die Schrammen und Wunden des Bodens verdeckt;
die Außenseite von Ferien, Gesine
.
    In Tottenville kam der Tod vorbei. Im weißen, von der Sonne gedehnten Licht gingen zwei dunkel gekleidete Paare auf ein Haus zu, das sah aus wie eine vornehme Molkerei oder Privatschule. Die Haut der beiden Frauen war ganz warm unter dem durchsichtigen Stoff. Ein Mann im Straßenanzug drückte sich befangen hinterdrein, als geniere ihn die Erwartung, die liegende Person zu sehen, oder die Voraussicht, daß sie auch ihn in wenigen Jahren durch die Hintertür des Bestattungsunternehmens hineintragen werden. (Als besuchte er seine künftige Wohnung, sich selbst darin, und hätte seinen Umzug noch

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