Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Unbedenklichkeit erwirken, zwecks Vervielfältigung eines Textes. Am 18. saßen wir da mit unseren Stößen rauhen fleckigen Papiers, und Saitschik der Haase genoß seinen Auftritt im voraus.
– Das’ man ne olle Kamelle: sagte Saitschik: Wer schwängert, der soll auch schwören!
Der Gast bedankte sich für die Unterweisung in mecklenburgischer Volksweisheit. So war es, aus Saitschik sprach der Geist der Ackerbürgerei von Gneez (und des vertriebenen Adels); ohne daß er sich bewußt war, was er damit an Mutmaßungen herausgefordert hatte über die Ehe seiner Eltern oder seinen Umgang mit Eva Matschinsky. Die duckte sich, die war errötet.
Dagobert Haase stand da in seinem leicht dicklichen und treuherzigen Wuchs, nölig und in einem Trotz benahm er sich wie jemand, der bloß gehorcht; könnte zwar anders. Und sprach: Das is so ungefähr hunnertfünfzig Jåhr her. Da hat ein Rittmeister eine Freundin, die will er vleich heirådn. Mit eins verkuckt er sich in ihre Tochter, zwanzig Jahr jünger, aber weil die Leute Witze machen über die Blatternarben in ihr Gesicht, will er sich vor den Folgen drücken. Der König befiehlt ihm die Heirat, macht er denn auch; aber erschießt sich nach dem Mittagessen. Den Namen und das Kind, das läßt er ihr.
Saitschik machte eine gefällige Halbwendung, so daß wir ihn ansehen könnten, was er meinte: Ist doch wahr, oder?
Herr Weserich dankte ihm für die Zusammenfassung der Handlung. Ob der Schüler Haase noch bereit sei für eine zusätzliche Frage?
Saitschik ließ den Kopf nach vorn fallen, machte den stillen Dulder; nannte auf Verlangen: die Hauptperson wie die Überschrift, die Tochter jemand namens Victoire, die Mutter eine Geborene … Familienname unbekannt.
Die Wohnanschrift der Familie von Carayon? fragte dieser Deutschlehrer an Saitschik vorbei, ausdrücklich um ihn zu schonen, und als die Schülerin Cresspahl bloß die Stadt Berlin zu nennen wußte, durften wir die Geschichte noch einmal von vorn beginnen:
»In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon waren an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend einige Freunde versammelt …«
Wir wurden belehrt, daß Personen von Stande zu jener Zeit … aber es sei wohl wenig ergiebig, nach dem Jahr zu fragen?
– 1806: meinte Anita, und sollte gestehen, wieso. – Weil die Leute da die Dreikaiserschlacht von Austerlitz besprechen wie ganz was Neues, die war im vorigen Dezember am 2.
… zu jener Zeit ihre Anschriften aussuchten, mit der Lage ihrer Wohnung auf sich hielten, auf sich wiesen. So sei es, leider! unumgänglich, uns mit der Auskunft zu versehen, daß die Behrenstraße einen Block südwärts von Unter den Linden sich erstrecke, die Carayons mit der Ecklage an der Charlottenstraße sich eines Glücksfalles erfreuten, wenige Zeit Fußwegs von der Oper, dem Lustgarten, dem Schloß. Behrenstraße benannt nach dem berliner Bären, diese Meinung sei verbreitet; in Wahrheit dem Ingenieur Johann Heinrich Behr zu Ehren, dem Berlin die Französische Straße verdankt, 1701 die Jerusalemer und die Leipziger. Jedem verbrieften Berliner wohlvertraut, der Lebenserfahrung nach auch den Angehörigen einer Elf A Zwei, die erst am 11. September davon hätten läuten hören, wenn auch von einer anderen Glocke. Und wenn man einmal erwägen wolle, daß der Verfasser jener Erzählung einem bloßen Zufall aus dem Wege gehe, warum habe er den Namen eines Baumeisters aus dem siebzehnten/achtzehnten Jahrhundert gleich in die erste Zeile gezogen? vielleicht um der Vergangenheit der Geschichte einen Hauch von einer noch älteren anzuziehen. Faßlich? Und seien wir geneigt, uns vernehmen zu lassen über den Untertitel? »Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes«? Dafür, für ein so entschlossenes Schweigen habe ein junger Praktikant sich Schulstunden lang verbreitet über die namentliche Abkunft dieses Kürassierregimentes, an Stelle der Lanze den geraden Degen führend, von der Reitertruppe Karls IV . von Frankreich. Angedenk der Herkunft des Verfassers aus dem Französischen? Gens d’armes, au Moyen Âge, soldats, cavaliers du roi? Da die Stunde, für deren faszinierenden Elemente er uns verpflichtet sei, ihrem Ende entgegensehe, dürfe er uns nunmehr bitten, bis zum Mittwoch die ersten zwei Seiten wenigstens versuchen zu
lesen
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Die Elf A Zwei benötigte für die ersten sechs Seiten der Erzählung an die drei Wochen; sah man Herrn Weserich an wegen der Verschwendung von Zeit, so ließ der sich keine grauen
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