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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Haare wachsen. Wir begannen uns zu freuen auf seine Ausbrüche heiterer Verzweiflung, wenn wir es denn tatsächlich unterlassen hatten, uns unter den klaren Worten »in England und den Unionsstaaten« auch die Vereinigten Staaten von Amerika vorzustellen, damit wir über die Herkunft des Herrn Bülow, Adam Heinrich Dietrich v. B., noch mehr wußten als seine Verhaftung wegen Schriftstellerei. War es denn denkbar, daß es in der ganzen Stadt Gneez nur ein einziges Konversationslexikon aufzutreiben gebe, und das sei auf Jahre hinaus verliehen?
    Kleinlichkeit konnte ihm keiner vorwerfen, dem Weserich. Guten Willen zeigten wir ihm; für die lateinischen Zitate waren wir durch Kliefoth gerüstet und übersetzten auch einmal eines selber (hic haeret). Nach einer Weile sah Weserich ein, daß die Kenntnis von Latein zwar behilflich sein kann beim Erlernen des Französischen, eines Unterrichts in der Sprache jedoch keines Weges zu entbehren vermöge. Es verwunderte ihn, er ergab sich ungern; sollte er deswegen sich anlegen mit den geistigen Vätern der Schulreform, die das Französische ersetzt hatten durch das Russische? Fortan ließ er sich Aussprüche in Fontanes zweiter Sprache zwecks Verdeutschung vorlegen; immer mindestens drei, darauf bestand er. – Uns läuft die Zeit davon! rief er aus, und es war später Oktober, und wir standen im zweiten Kapitel. Dafür sahen wir schon einmal im Lexikon nach, was das ist: ein Embonpoint und eine Nonchalance, worin ein Gourmand excelliert und worin ein Gourmet; fragten bei alten Leuten, ob sie noch so eine Sinumbralampe gesehen hatten, so eine kranzförmige Öllampe mit nur geringem Schatten. Wenn dann den Mathias Weserich unsere Kenntnis erfreute, so daß er überrascht tat und ungläubig, das sollte uns Spaß machen, den Gefallen taten wir ihm.
    Zwei Wochenstunden über das Rätsel: Warum setzt Fontane hier Kapitel-Überschriften, anders als in »Unterm Birnbaum« nur drei Jahre früher, als im »Graf Petöfy« ein Jahr nach »Schach«? Was ist eine Überschrift. Sie steht oben (aber warum tragen Gemälde ihre Namen unten oder seitwärts?); sie verweist auf das, was folgt. Sie ist eine Höflichkeit gegenüber dem Leser; am Ende eines Kapitels soll er Luft holen und dann vorher wissen, wohin die Reise geht, zu Sala Tarone, nach Tempelhof oder Wuthenow. Ja, und soll sie uns den Mund wäßrig machen? solche Schriftsteller gibt’s auch; wir haben es mit Fontane zu tun. Eine Überschrift ist ein Meilenstein am Wege: Wanderer, nach neunzehn Kilometern kommst du nach Jerichow. Eine Ortstafel; der Fremde liest da »Gneez i. M.« und ist anfangs wenig beraten; betritt er die Stadt, weiß er wo er ist. Eine Überschrift als Warnung. Als ein Ornament, die alten Moden im Berlin von 1806 zu begleiten. Das mag sein; was jedoch ist das: eine Überschrift?
    Bei der »Italiener Wein- und Delikatessenhandlung von Sala Tarone« in der Charlottenstraße bekamen wir ein Malheur. Denn die Herren müssen durch eine Reihe eng stehender Fässer sich wenden, und der Küfer mahnt zu Vorsicht. – Is hier allens voll Pinnen und Nägel: sagt er. In unserer Klasse war ein Kind, das hieß Nagel. Wir hätten erwachsen tun können; am nächsten Tag hieß er Pinne Nagel. Hat es tapfer hingenommen. War im Grunde froh, daß er nun auch so etwas Eigenes hatte, einen Spitznamen. Seine künftige Redensart bei kniffligen Rechengängen, unbequemen Unterkünften: Is hier allens voll Pinnen und Nägel. Hat es überlebt, Pinne Nagel, lebt heute als Kieferchirurg in Flensburg.
    Was aber eine Pinne ist, darüber wollte unser Herr Weserich belehrt werden. Den Unterschied zum Nagel begriff er erst, als wir ihm die Geschichte von Klein Erna im Sarg und der Pinne in der Baskenmütze verkasematuckelt hatten, wegen Pietät und Takt. Ebenso, bei dem Besuch Schachs in seiner Heimat, mit dem Platt. Er tat wahrhaftig, als sei ihm das böhmisch. Wir übersetzten ihm, warum de oll Zick immer Mudding Krepsch dahin stößt, wo sie ihre Wehdage hat; schriftlich, da er darum bat. Eines Tages kam er mit Vorwürfen. Wir hätten ihm ein Wort unterschlagen, gleich zu Anfang, im vierten Kapitel schon. Wir waren zerknirscht, wir versprachen Buße. Da war es wegen der Tante Marguerite in der Erzählung, »die das damalige, sich fast ausschließlich im Dative bewegende Berlinisch mit geprüntem Munde sprach«, ohne daß das anstößige Verb mit einem Anführungszeichen gekennzeichnet sei. Wir hätten getan, als sei das ein jedermann

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