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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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verständliches Wort! das war es, und er bat, es vorgemacht zu bekommen, stellte sich vor eine Schülerin nach der anderen (wir hatten ihm weis gemacht, daß nur Mädchen prünen) und sah ihr auf die vorgewölbt bewegten Lippen; bedankte sich. Wir knicksten, seitlich die Röcke raffend, die damals übers Knie gingen. We curtseyed.
    Wir waren schon in Wuthenow, Seite 122 unserer Abschrift, Kapitel 14, wir hatten genug von Schach (der Person, weil er uns mit seiner larmoyanten Drückebergerei die Bootsfahrt auf dem See verdarb), da waren wir eingeladen von Weserich zu einem Vortrag, wie wir denn mit ihm bekannt geworden waren (auswendig!). Eine Beratung von fünfundvierzig Minuten, bis zur Klingel. Dann erwiesen sich die auf den Anfang vertanen Wochen als lohnende Anlage: wir fanden die letzte Zeile im ersten Absatz, in dem er abwesend vorkommt, auch namenlos. Die Herren Bülow, sein Verleger Sander, von Alvensleben unterhalten sich mit ihren Gastgebern, den Damen Carayon. Bülow möchte streiten. Er zitiert seinen Mirabeau mit dem Wort von dem Staate Friedrichs des Großen als einer Frucht, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden. In seinem Sermon spreizt er sich, wie von ungefähr mit dem Leitsatze: nomen et omen. Nicht das est, das uns die Schule beigebracht hatte, sondern das et, das den Namen und seine Bedeutung in dichtere und schwangere Bedeutung, Nachbarschaft bringe. Nach Bülows emphatischer Bekundung, »Europa hätt’ ein bißchen mehr von Serail- oder Haremswirtschaft ohne großen Schaden ertragen …«, wer läßt sich melden mitten in seinem Satz? der Rittmeister von Schach, der Schah zwischen zwei Frauen; sein Widersacher ist schon da, der wird ein letztes Wort haben bis zum Ende. Fontane und die Wissenschaft von den Namen. Fontane und die Kunst, jemanden einzuführen.
    Eine Personenliste: Josephine, Victoire, Schach, Tante Marguerite, der König, seine viel beseufzte Luise, Prinz Louis, General Köckritz, der Wirt in Tempelhof …
    Eine Liste der Orte, der Schauplätze: Der Salon der Carayons, der Keller mit den Pinnen, die Kutschenfahrt, die (erfundene) Kirche in Tempelhof, die Villa an der moabiter Spree, gegenüber der Westlisière des Tiergartens (wir sollten mit dem Nachschlagen mittlerweile angelangt sein, wo ein Grund für die Wahl solchen Wortes zu suchen war), die Parade in Tempelhof, die Bettszene, Wuthenow am See, Schloß und Park Paretz, Tod in der Wilhelmstraße. Faßlich? Schriftliche, anonyme Abstimmung über die Vorzüge der Orte. Der See kam an die erste Stelle; wir waren zumeist wieder aus Mecklenburg, die Kinder vom Njemen oder aus Schlesien, sie nahmen vorlieb. Pius zeigte mir, daß er Paretz angekreuzt hatte. Der Schülerin Cresspahl war das liebste Bild das der Schwäne, die in langer Front vom Charlottenburger Park her angeschwommen kamen.
    Wiederum ein häßlicher Zwischenfall: Schach läßt sich aus über den Prinzen, seinen gnädigen Herrn, den liebt er de tout mon cœur: teilt er Victoire mit. Aber Louis sei mit all seinen Abenteuern in Krieg und Liebe doch ein »Licht, das mit einem Räuber brennt«. Wir hatten unserem Lehrer für Deutsch ein Wort unterschoben! Nun stand er da ganz unbewußt, was denn ein Räuber sei am Licht in diesem Norddeutschland! Wir sehen ein, wie wir eine Strafe verdient haben, und bitten um eine gehörige solche. Es ist ein Licht mit einem stark rußenden Docht, der stiehlt das Kerzenwachs. Als die Kerzen noch aus Wachs gewesen sind …
    Anita hatte sich den Knicks erspart, mit dem wir alle den Mathias Weserich hatten necken wollen. Sie war versehen; sie hatte sich versehen. Es war in der Klasse allmählich Gewohnheit, sich zur linken hinteren Ecke umzuwenden, wenn Dieter Lockenvitz an der Reihe war; auch Anita wollte gern sehen, wie er redete. Aufständisch; ihre Brauen hoben sich in Besorgnis. Dem Schüler Lockenvitz mißfielen Einzelheiten an einer Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Im vierten Kapitel und auf dem Kirchhof Tempelhof stehen Haselnuß- und Hagebuttensträucher so reichlich, daß sie eine dichte Hecke bilden, »trotzdem sie noch kahl waren«. Für dieses »trotzdem« bekäme ein Schüler einen Rotstrich. Im Kapitel »Le choix du Schach« heiße es »nach Festsetzungen wie diese trennte man sich«; sei da ein Druckfehler oder etwas Mangelhaftes in der Grammatik vorgefallen? Am meisten ärgerte (aigrierte: konnten wir inzwischen denken) diesen Schüler die Gewohnheit Fontanes, Äußerungen direkter Rede sowohl

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