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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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bleibt abgeschafft. Die Freiheit sich zu versammeln und verbünden, sie bleibt. Ein einziges Zugeständnis: die Führung in Prag hat die Zeitungen gebeten, zu verzichten auf Artikel mit Meinungen, die könnten die Verbündeten betrüben. Artikel mit Tatsachen scheinen erlaubt.
     
    Am vorletzten Tag des Oktober wurde ein Teil der Verhandlung gegen Sieboldt/Gollantz abgehalten in der Aula der Fritz Reuter-Oberschule zu Gneez. Herr Direktor Kramritz war angewiesen, bei Elise Bock eine Liste auszulegen; da hatte sich namentlich anzugeben, wer Zeuge zu sein wünschte bei solchem Prozeß, mit Unterschrift. Zwar bekamen sie sämtlich portofreie Postkarten ausgehändigt, maschinell numeriert, mit Druckvermerk, ohne Text: die Einladung. Aber wer am Montagnachmittag bloß mit dem Mitgliedsbuch der F. D. J. ankam vor der Aula, den schickten die beiden uniformierten Weiber am Kontrolltisch gleich weg. Die wollten den »P. A.« sehen, den Personalausweis; vielleicht aus einem Mißtrauen gegen die Verwaltung, wie sie in der Kreisjugendleitung im Schwange war (abhanden geratene Matrizen, Vervielfältigungsmaterial!). Auch lassen sich polizeilich ausgestellte Dokumente schwer fälschen, und leichter ist ihnen auf die Spur zu kommen. Wer im Lumberjack auftrat statt im Blauhemd, den ließ weiterhin die Bettina Selbich umkehren; wegen »mangelnden Bewußtseins«. So war der Saal schließlich besetzt von wenig Schülern, viel ortsfremden Aufpassern.
     
    – Ein Hemd im Oktober.
    – Die Schülerin Cresspahl hatte noch solch ein Stück in Blau erworben, zwei Nummern weiter als ihre Größe; um einen Pullover darunter zu tragen. Pius sah ihr das ab; Lockenvitz fror.
    – Wenn ich bloß wüßte, was du denkst über den!
    – Denk doch selber.
    – Ein lumber jack.
    – Siehste! Kannst kein Canadisch!
    – Holzschläger. Every man jack.
    – Das war im Herbst 1950 angekommen als Mode, Jacken aus zart geripptem Krepp, mit breiten Kragen, einem Reißverschluß von unten bis oben, offen einzuführen, Taschen außen und innen mit Reißverschlüssen. Wie das angeblich die Holzarbeiter in Canada tragen.
    – Lumber jacket heißt das!
    – Wir konnten eben auch kein Canadisch.
    – Wie bei uns die indianischen Stirnbänder?
    – Solche Jacke bedeutete über ihren Träger: er kommt an Leute mit Westgeld heran; ihm gefällt Canada.
    – Aber Pius hatte doch einen.
    – Elementary, my dear Watson.
    – So wie Blue Jeans heutzutage in Budapest? Und in Ostdeutschland?
    – Was geht mich das an! Wo die Leute einen Sachwalter über sich dulden, der wird auf dem Markthausplatz von Bratislava verspottet und ausgepfiffen!
    – Gesine, du sagtest: Erst ab Ende Oktober.
     
    Die Aula stand im Gedächtnis als ein eichendunkler Raum, bis Mannshöhe eingefaßt von Paneelen, mit Bänken so kräftig wie in einer Kirche, bedeckt von einer Platte aus hölzernen Kassetten. Nun war es eine Halle zur Ausstellung von Fahnenfarben. Dabei kam die F. D. J. schlecht weg, zweimal mehr hing da das Rot der Einheitspartei, manchmal mit den verschränkten Händen, auch die Staatsflagge SchwarzRotGold, nunmehr versehen mit dem Symbol für die Bauern, einem oben offen geflochtenen Ährenkranz, mit dem für die Arbeiter, einem Hammer. (Gegenwartskunde bei Selbich: den Adler, diesen Pleitegeier, den überlassen wir voller Stolz den reaktionären Kräften in Westdeutschland!) In der Stirnwand, oberhalb des rot verhängten Richtertisches, Picassos Friedenstaube in der zweiten Fassung. Die Ausstattung machte die Veranstaltung kenntlich als eine der Behörden, statt irgend eines Vereins. Manfras und Lockenvitz, die ranghöchsten Funktionäre, saßen für dies Mal gefälligst auf der Bank der Elf A Zwei. Schweigen wie in einer Aussegnungshalle, mit Blick auf einen Sarg. Als das Schulgebäude gänzlich umstellt war von der blauen Volkspolizei, fuhr der gepanzerte Transporter aus Rostock auf vor dem Portal. Eine bewaffnete Kompanie eskortierte die Angeklagten die sechs Treppenwendungen hinauf zur Aula. In der offenen Tür hörten wir das Klicken und wußten: in diesem Augenblick werden ihnen die Handschellen abgenommen. Sieboldt und Gollantz zeigten uns aufrechte, geradezu steife Rücken, einen absichtlich lässigen Gang, während sie auf das Podium geleitet wurden und Platz nahmen zwischen vier Wachtmeistern. Zwei Jungen im Alter von Neunzehn und Zwanzig, verkleidet in den Sonntagsanzügen ihrer verstorbenen Väter. Gleichmütige Mienen, die die geringsten Grußgrimassen

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