Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
unterließen, selbst die, die sie unauffällig hätten hinkriegen können mit Wimpern oder Augenwinkeln. Aber sie sahen recht genau hin, wer gekommen war zu ihrer Verabschiedung. Dann merkte der Vorsitzende des Gerichts seinen Fehler und befahl ihnen, den Blick seitwärts zu richten. Das war ein geschwätziger Mann, betulich wie eine Tante, hilflos: Wie konnten Sie nur, das ist ja schrecklich, solche Verderbnis in jugendlichem Alter. So redete der. Der Staatsanwalt auch behindert von bürgerlicher Erziehung, mit einer Vorliebe für abgefeimte Unterstellungen, die er ausgab als feine Ironie. Über den Verteidiger kein Wort; außer daß auch er den Knopf der Staatspartei im Revers trug. Die hatten sich ihren eigenen Diener mitgebracht, der sprach zu uns von ihnen als dem Hohen Gericht. Kalt war das in der Aula. Von den langen Fenstern das bleich leuchtende Licht, das es nur im Oktober gibt.
– Da wird Dicken Sieboldt euch gerade erzählen dürfen, was auf den Flugblättern stand!
– Die Schülerin Cresspahl war gekommen, um ihn und Gollantz noch einmal zu sehen. Wie man zu jemand geht, den siehst du nie wieder.
– Die letzte Ehre erweisen?
– Wenn du siebzehn bist, kann dir so zumute sein. Aber wir kannten ja das Urteil. Zwar hatte Väterchen Stalin die Todesstrafe wieder eingeführt am 13. Januar, das Höchstmaß des sozialen Schutzes; für diese beiden würde es bloß die Fünfundzwanzig Jahre geben. Das Übliche.
– Für ein paar Flugblätter.
– Und Pius bewies mir endgültig, daß wir Freunde waren. Seines Vaters wegen galten die Pagenkopfs als einverstanden mit der Regierung des Sachwalters; gerade denen wurde etwas durch den Briefschlitz gesteckt. Und Pius wartete einmal im Juni, bis ich ihn um die Logarithmentafel bat. Was ich darin fand, konnte versehentlich eingelegt sein. So durfte er der Abteilung D unbedenklich beschwören, er habe das Bild mit Stacheldraht und Aufdruck keinem Menschen gezeigt, als er sie ablieferte, den Pflichten eines wachsamen Friedensfreundes gemäß. Nachdem ich zu Ende gelesen hatte, hing zwischen uns ein Blick, solchen kriegst du im Leben, wenn es hoch kommt und gut gegangen ist, vielleicht drei Mal.
– An einem Handtuch trocknet ihr euch ab! Wand an Wand schlaft ihr! Aber vertrauen tut ihr einander erst, wenn du ihn ins Zuchthaus bringen könntest.
– Seit dem Augenblick hatt ich noch einen Bruder.
Die ehemaligen Studenten Sieboldt und Gollantz waren angeklagt wegen privater und verschwörerischer Besuche in Westberlin. Dort stand das Ostbüro der S. P. D., dort residierte der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, dort operierte die Kampfgruppe Gegen Unmenschlichkeit. Vor ostdeutschen Gerichten war erwiesen, diese Leute hätten eine Brücke in die Luft sprengen, eine Scheune anzünden lassen. Hingegen glaubte ich Jakob, wenn er erzählte von einem in Rostock aufgefundenen Waggon, der war mit gefälschten Laufpapieren umgeleitet worden aus Sachsen, und die Butter darin fehlte nun den Leuten der Stadt Leipzig; wäre sie denn noch eßbar gewesen. Allerdings hatten Sieboldt und Gollantz von sich gewiesen, den Antikommunismus anderer Leute auf den Knochen ihrer eigenen Verwandten und Nachbarn auszutoben, indem sie die Verteilung von Lebensmitteln in noch mehr Unordnung brachten als die ostdeutschen Behörden das ohnedies taten; sie waren nach Westberlin gegangen mit etwas, das hatten sie sich ausgedacht. Um so schlimmer: befand das Gericht. Sie hatten bei einem jener Vereine, die alle bei Amtsgerichten Westberlins eingetragen waren, wohl ein Bild von jugendlicher Marschkolonne hinter bewehrtem Draht angenommen, aber unter der Bedingung, daß es versehen werde mit ihren eigenen Sätzen. Um so schlimmer: befand das Hohe Gericht. Während die Angeklagten lediglich bedrängt wurden, sich zu bekennen zur Schändlichkeit dieser Sätze, wußten zumindest zwei Schüler sie ungefähr auswendig: Die Parolen vom Frieden und Friedenskampf, sie seien eine Umschreibung für die Sicherung des sowjetischen Besitzstandes im mittleren und östlichen Europa; seit die Sowjetunion auch verfüge über eine Atombombe, und nämlich durch Diebstahl, habe eine Vorbereitung zur Offensive begonnen, durch Personalverstärkung und zusätzliche Ausrüstung der Volkspolizei, durch Werbung unter Mitgliedern der F. D. J. zum Eintritt in die getarnte Armee, Berufung eines ihrer führenden Funktionäre in die Hauptverwaltung Volkspolizei; wofür marschiert ihr, Angehörige der
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