Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
1957.
Harter ungarischer Akzent in der blechernen Stimme. Sie weiß, als Kind hat sie sanfter gesprochen; daher die Vorliebe zu flüstern.
Sie gibt einen Defekt zu: Unfähigkeit zu lügen; es sei denn ein Vorsatz ihr bewußt. Dazu muß es erst noch kommen.
Ihr schwarzes Haar ist vielleicht gefärbt. Sehr kurz, in Locken herzförmig geschnitten; eine Spitze geht in die Stirn. Ein Gesicht mit wenig Falten; eher ängstlich im Ausdruck als aufgeschlossen. Wenn sie lachen möchte, wird daraus unweigerlich: Ha!
»I am fussy, nervous.« In jüngerem Alter hätte man die Geduld gehabt für Kinder.
Einmal hat sie fast gelacht. Ihr Mann brachte ein neues Bett an, nun sollte die Besucherin es prüfen, darauf sich setzen. Mrs. Cresspahls Urteil: Gute Ware. Mrs. Blumenroth: HaHa!
Im Haushalt ungemein ordentlich. Immer alles gleich wegstellen.
An der Zeit des Nachkriegs fand sie schwierig, wie man als Frau aus guten Verhältnissen, mit einem Sinn fürs Richtige, in eine falsche, unsichere Lage geraten konnte.
Hartnäckig bemüht um ein gepflegtes Aussehen; stets mit der Angst, das Dach überm Kopf stürzt ein.
»In meinem Alter muß mein Rücken weh tun.«
Die würde ein deutsches Kind annehmen als Tochter zum Pflegen.
Nun Pamela, eine Gefährtin für Marie zum Weiterleben.
Sie steht mit vorgedrücktem Brustkorb, hält auf kurzem Hals den Kopf nach hinten. Zieht den Mund breit, alles wird nach hinten und unten gedrängt, als wäre der Kopf am Brustkorb angewachsen. Das ganze Gesicht lacht. Marie strahlt beim Anblick der Freundin.
Marie verfolgt Pläne und Gegenstände; regt sich auf. Pamela benimmt sich, als wär sie eine Zweitgeborene. Ein »Mädchen« im europäischen Verständnis.
Das wird eine praktische, nette Frau. An Klugheit fehlt es; unverrückbar richtig ist sie. Das wollen wir alles sehen. Auf Pamelas Hochzeit wollen wir gehen.
Öfter am Strand taten Kopfformen und Physiognomien Leuten in Deutschland ähnlich, wie öfter auf den Straßen New Yorks, besonders Doppelgänger des Dichters Günter Eich sitzen vielfach auf Bänken und an Theken; auf eine Ingeborg Bachmann stößt man nie. Aber es sind auch Leute zu sehen, die entbehrt die genasführte Erwartung gerne, stattliche Blondinen darunter; dann wartet die Erinnerung auf die erleichternde Ähnlichkeit von einem Mathias Weserich und dem Wm. Brewster (in jüngeren Jahren).
Am Nachmittag auf dem Spielplatz im Riverside Park erholte sich vielerlei Publikum; wer da Herrn Anselm Kristlein erkannte, will lange sich getäuscht haben, bis sie ihn erkennen muß. Vielleicht wegen des Wissens, er ist in der Stadt. Geheim, inkognito; das möchte er wohl, sollte dafür jedoch einen Anruf bei Ginny Carpenter unterlassen. Sie rief zurück am Abend in sein Hotel am Central Park South, Kristlein bedient sich mit dem Aufwendigsten, den sind Billigkäufe schon teuer zu stehen gekommen. Ginny erzählte kichernd vor Entzücken über die Vorsicht in seiner Frage am Telefon: – Ja –? Immer vorsichtig am Apparat. Man kennt so viele Damen in der Stadt, da könnte ja eine mal kommen und was wollen von ihm. Besser fürs erste keine Namen nennen. Das Tête-à-tête, das Souper à deux mit der Frau des Reserveoffiziers Carpenter, es war wie immer mit Anselm. Ginnys Worte. In der Mayo-Klinik hat er sich durchnehmen lassen: sagt er. Goldene Worte. Zum Sammeln von Spenden für europäische Auftritte gegen den Krieg in Viet Nam, dazu ist er nach New York gekommen; Ginny ist von diesem behenden Herrn eingeladen, ihn zu beraten bei Einkäufen an der Fünften und Madison. Nach frischen Schwangerschaften rings um Ginny erkundigt er sich umständlich, beiläufig; nennt man ihm eine, schnickt er mit den Fingern einer Hand, als habe er sich verbrannt. Mrs. Carpenter hat ihm einen Scheck von der Hand ihres Mannes versprochen; da er eines Bankkontos entbehrt, auf das man dergleichen Zuwendungen nachweisbar überführen könnte. Was sucht ein Anselm Kristlein an der Westseite Manhattans, in der von Ginny so arg beklagten Schäbigkeit dieser Gegend? Sie selber?
Anselm Kristlein in unserem Park war zu erkennen an nachdrücklichen Blicken über den Immobilienteil der londoner Times hinweg auf eine junge Frau, die zwei Bänke weiter saß und die Routen eines dreijährigen Mädchens vom Sandkasten zu den Fontänen verfolgte; er bekam den Blick kaum los von der hellen roten Bluse aus rauhem Stoff, von den rötlichen Haaren, die ihr im Nacken lagen, ganz unüberlegt aber geschickt geknotet, von der
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