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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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hereingelegt. Blamiert. In seinem politischen Gewissen gekränkt.
     
    – Von den zirka acht Millionen Menschen, die rings um diese Fähre John F. Kennedy ihr Auskommen suchen, erinnern sich bestimmt ein paar, als wär das umgekehrt gewesen.
    – Wir auch. Denn als wir gegen Mittag des 26. Juni in eine Vollversammlung der Schule befohlen wurden, war Bettinas Bemühen am Rednerpult um die einseitige Schuld der Imperialisten ein Stück Erbauung gewesen. Von uns die Lüge per Akklamation zu verlangen, das bejahende Abstimmen zu fordern über die Unwahrheit, es war Hohn und Spaß für Kinder, die ein Rundfunkgerät zu bedienen wußten. Und wer war gewählt worden, vor der Tür der Aula einen Wortlaut zu beraten? Wer kam zurück mit einem Mosaik, makellos zusammengefügt aus den Versatzstücken der Sprache in den Zeitungen? Sieboldt und Gollantz. Und wem dankten sie für die beherzte Mithilfe bei der Redaktion, wessen Geschick mit Worten priesen sie an für die Nachfolge in der Führung der jungen freien Deutschen in der Oberschule von Gneez? Gabriel Manfras. Den hatten sie bestimmt, am Nachmittag auf dem Balkon des Rathauses den davor aufmarschierten Leuten mit leidenschaftlicher Betonung einen Text zu verlesen, der ihm einwandfrei erschien; jetzt stand er da als Mitwirkender bei einer Fälschung, mit einer Empfehlung von Friedenszweiflern für seine politische Arbeit. Da darf man böse sein; das wußten die Angeklagten zu würdigen.
    – Ein Schlußwort.
    – Sieboldt und Gollantz dankten dem Gericht für seine Bemühung, stritten abermals das Bewußtsein einer Rechtswidrigkeit ab jeder für seine Person, hatten ein abschließendes Bedenken: womöglich wäre es den Umständen mehr angemessen gewesen, wenn sie den Vorgängen des Nachmittages hätten beiwohnen dürfen im Ehrenkleid der Freien Deutschen Jugend.
    – Könnte ich nie.
    – Kannst du, Marie. So wird Mancher, wenn er alles hinter sich hat, vor sich fünfundzwanzig Jahre Bau. Nie auf einer Fähre durch den Hafen von New York fahren dürfen. Ein Mädchen verloren haben. Kein Mal aufwachen dürfen, außer von dem Schlag gegen ein Stück Eisenschiene. Wissen, daß das einzige Gepäck die Erinnerung sein wird von bloß neunzehn und zwanzig Jahren.
    – Wenn ich Lisette von Probandt wäre und hätt ein Gedächtnis, das Leben wär mir entgegen.
    – Aus den fünfundzwanzig Jahren wurden bloß fünf, dann kam ein westdeutscher Kanzler zu Besuch in der Sowjetunion. Mit den restlichen Kriegsgefangenen wurden Sieboldt und Gollantz ausgeliefert, die studierten gemeinsam in Bonn und Heidelberg das Rechtswesen, die sind seit 1962 übernommen vom Auswärtigen Amt, und bald wird es eine Botschaft geben, da gehen wir sie besuchen.
    – So haben die Sowjets den Westdeutschen zwei Staatsbeamte erzogen.
    – Kaderentwicklung heißt das! Und die Lisette, die hat gewartet ihre sieben Jahr. Die hat ihren Gollantz geheiratet, bei denen geht Sieboldt zu Besuch als Pate.
    – So verzeihen, könnte ich nie.
    – Kannst du. Lernst du.
     
    (Auch Sonntag ist der Tag der South Ferry, wenn Marie ihn dazu erklärt.)
    5. August, 1968 Montag
    Im Fernsehen der Č. S. S. R. hat Alexander Dubček als Chef der Kommunisten angesagt: die Konferenz in Bratislava habe dem Lande weiteren Raum für seine Liberalisierung gebracht, sie erfülle »unsere Erwartungen« (statt: sämtliche). Er soll sich Mühe gegeben haben, die Genugtuung seiner Partei zu verbergen.
    Gestern in Florida, passend zum Sonntag, mietete ein Mensch, begleitet von einem etwa zweijährigen Kind, eine Cessna 182, zum Besichtigen der Gegend: wie er sagte. Dann zog er einen Revolver; die Maschine mußte nach Cuba.
    Gestern über dem südöstlichen Wisconsin stieß eine Convair 580 mit einem kleinen Privatflugzeug zusammen, nahm das unterlegene Wrack und drei Tote darin eingekeilt mit bis zur Landung.
    Wir fliegen auch bald.
    Der Schüler Lockenvitz.
    (Weil du es wünschest, Marie, Nur was ich
weiß
.)
    Im Frühjahr 1950 luden wir ihn in die Arbeitsgemeinschaft der Jugendfreunde Pagenkopf und Cresspahl.
    Aus Eigennutz. Von diesem lang aufgeschossenen, verhungerten Knaben wollten wir lernen wie er lateinisch denken konnte. - Eundem Germaniae sinum proximi Oceano Cimbri tenent, parva nunc civitas, sed gloria ingens: sagte der beiläufig, wenn vom Obotritenadel die Rede war.
    Soziale Herkunft, Beruf des Vaters: Landwirt. Im Fragebogen von 1949: Diplomwirt. 1950: Direktor der städtischen Gärten, Parks und Friedhofsbepflanzung

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