Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
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(sei unbesorgt. Ich verschweige den Namen der Stadt. Überdies hast du ihn ja regelmäßig ausgesprochen, wie er nun auf polnisch lautet. Besten Falls Anita hat ihn verstanden)
eines größeren Gemeinwesens im heutigen Volkspolen. Bürgerlich.
Politische Herkunft, Parteizugehörigkeit der Eltern vor 1945: Keine. Vor 1933: D. N. V. P. Imperialistisch. Daß sein Vater sich den Nazis fern gehalten habe, darauf bestand er. Wie aber wollte er entschuldigen, daß er das fünfte Schuljahr verbracht hatte in einer NaPolA? Sein Vater sei 1944 vor die Wahl gestellt worden: Einziehung zur Wehrmacht, oder ein anderes Bekenntnis zum Hitlerstaat. Schwere finanzielle Belastung, die Gebühren für die National-Politische Erziehungsanstalt. Von den Ordensburgen der Hitlerjugend unterschieden durch geringere Ansprüche an körperliche Tüchtigkeit. Siehe die Brille. Ein Blechgestell, das ihm bei heißem Wetter rostige Rinnsale entlang der Nase schickte.
Warum aber nahmen die Sowjets seinen Vater mit, weder Wehrmacht noch Partei, so daß er im Februar 1947 »zuletzt gesehen wurde, als er tot auf seinem Lager lag«? (Eine Zeugen-Aussage; die Mutter hoffte auf eine Rente. Die Rente wurde ihr, siehe gesellschaftliche Vergangenheit des Ehemannes, 1947 vorläufig, 1949 endgültig abgesprochen. Anspruch auf Erziehungsbeihilfe für den Schüler Lockenvitz: Bewilligt.) Im Fragebogen, in Gegenwartskunde sagte Lockenvitz: Mein Vater hatte einen Mietstreit mit dem Besitzer unseres Hauses; er wurde fälschlich denunziert. Als er uns vertrauen mochte, mit der Bitte um Stillschweigen: In unsere Villa kam dann die sowjetische Kommandantur.
Ankunft in Gneez: Mit elf Jahren. Jene Stadt im Osten hatte verteidigt werden sollen, der Vater schickte die Familie mit umziehender Wehrmacht in Richtung Westfront; die Stadt liegt in Trümmern. Beruf der Mutter seit 1945: Gartenarbeiterin. Stand des Sohnes: proletarisch? Nein: Gruppe der Angestellten.
Erste Wohnung in Gneez: gegenüber dem Friedhof, bei Herrn Totengräber Budniak, in einem einzigen Zimmer. Seit 1949 zwei Zimmer an der Molkerei. Von März 1951 an: eine aus Mannschaftsstuben hergerichtete Wohnung im Barbara-Viertel, das die Sowjets geräumt hatten (und zu einem Drittel sprengten). Im Putz der Kasernenstirn die Umrisse des Reichsadlers mitsamt dem Kreis für das Hakenkreuz, auf dem er gesessen hatte.
Ein einzelnes Kind. Bäuerliche Verwandtschaft im Geburtsort des Vaters, Dassow am See, da verbrachte er Ferien, für Erntearbeit entlohnt in Naturalien. 1948 bis 1949: jeweils zwanzig Wochenstunden in einer Fahrradwerkstatt an der Straße der D. S. F.; das Geld benötigte er für Bücher. (Die Stadtbibliothek schloß um halb sechs; aber lesen kann man bis Mitternacht.) Von 1950 an Eilzusteller der Deutschen Post für den Landkreis Gneez, dafür hatte Anita ihm das schwedische Fahrrad aufgedrängt (ohne daß ihm in seiner Zerstreutheit aufgegangen wäre: ein Geschenk war’s, bei ihrem Preis). Zwanzig Pfennige für einen Tarifkilometer, Zuschlag bei Regen: fünfzehn Pfennige. Ob es geregnet hatte, hing ab von Berthold Knewer. Einmal hatte eine Frau in Alt Demwies so arg gewartet auf den Brief mit dem roten Zettel, der rot überkreuzten Adresse; sie gab ihm ein Ei. Oft aber verbrachte er die Nachmittage in der Sortierkammer bloß mit Warten auf Eilsendungen; mit Schularbeiten.
Ein empfindliches Kind. Wenn man so heißt. Ein Spitzname: Dietchen (gestiftet von Lise Wollenberg). Wenn man in der Tat Locken um den Kopf trägt, blonde ungebärdige Wellen. Hintendran ein Vitz, ein Fitz, ein Fetzchen. Lockenvitz senkte den Kopf und drückte die Lippen, als nehme er sich etwas vor; siehe aber auch GOETHE :
Denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.
Dergleichen Buch hat solch Kind lieber im Haus, griffbereit alle Zeit.
Ein beeinträchtigtes Kind. Wichtiger noch als Möbel bei all den Umzügen war eine gerahmte Fotografie des Vaters, ein vergrößertes Führerscheinbild; die Nietösen deutlich sichtbar. Frau Lockenvitz aber war erst fünfunddreißig alt, als ihr Mann zum Letzten Mal »gesehen wurde«; sie nahm aus seinem Nachlaß nur den Auftrag, den Jungen bis vor die Tür einer Universität zu bringen. (Der Vater hatte
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