Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Amerikanische Terrorflugzeuge hätten über dem von ihr verwalteten Gebiet große Mengen Kartoffelkäfer abgeworfen, um die sozialistische Landwirtschaft zu schädigen. Ende September begannen die Schüler der Elf A Zwei die Furchen der Kartoffeläcker um Gneez abzuschreiten, den Kopf suchend gesenkt, doryphora decemlineata zu entdecken; Butter auf dem Kopf, weil sie sich genierten für eine Staatsmacht, die ihnen zumutete, an solche Agrarattacke zu glauben, und es zu bezeugen durch die freudige Tat. Ein ganzes Buch müßtest du schreiben, Genosse Schriftsteller, diese Nachmittage angehend, so unendlich lang waren die, so infinitesimal drehte die Erde sich gegen die Sonne in eine östliche Kurve.
Und Lockenvitz wurde uns kenntlich zumindest als Sohn eines Biologen, mit dem ging ein Andenken durch, als er sagte: Ha! diese schlauen Imperialisten! Der Kartoffelkäfer überwintert in zwei Handbreit Bodentiefe und erscheint, sobald die Temperatur über zehn Grad anzeigt. Also Anfang Mai. Wann ist das Deutschlandtreffen? Ende Mai. Pünktlich kommen sie an, gehorsam legen die Weibchen ihre Eier in Platten von 20 bis 80 ab, jedes insgesamt bis zu 800, nach sieben Tagen sind die Larven geschlüpft, nach der Verpuppung brauchen die Käfer noch fünfzig Tage, dann sind sie bereit. Im Juli! statt am 23. Juni. Statt zu Pfingsten. Kinnings! wenn wir hier in Mecklenburg Kartoffelkäfer haben, dann sind das die Nachkömmlinge von denen, die 1937 zum ersten Mal im Südwestdeutschen gesichtet wurden! Wenn sie hier gedeihen, dann weil die Bodenreform die Knicks abgeschlagen hat, in diesen Hecken saßen nämlich Vogelnester, darin hinwiederum die Vertilger dieses Quarantäneschädlings! Weil mit den Gütern des Adels auch die Fasanenzuchten eingegangen sind!
– Wir: sagte der Junge. Wir hatten es geschafft.
Nun tat er es auch zu unserem Vergnügen, wenn er für Bettina S. sorgfältig übertrieben dozierte, wie unwissend abirrte in Labyrinthe des Denkens: Diese sechsbeinigen Botschafter der U. S.-amerikanischen Invasion. Aber unser Land ist gerüstet. Verfügen wir doch über den Fasan. Ein Niederwild, welches in gebuschtem Gelände lebt, auch in Kohlfeldern. Frißt Raupen und Würmer und Käfer, Schädlinge überhaupt! Ein Tier, welches leicht zu wildern ist, denn es fliegt schlecht. Aber man jagt den schlimmeren Feind, den Fuchs. Daher die große Vermehrung. Die wirtschaftliche Brutalität der amerikanischen Aggressoren führt die historische Forschung zurück auf das Lend-lease, das Pacht- und Leih-Abkommen von 1941. Unter dem Vorwand, der heldenhaft kämpfenden Sowjetunion mit Waffen und Verpflegung behilflich zu sein, schmuggelten sie in der Verpackung 117 verschiedene Arten von Insektenbrut und Unkrautsamen ein!
Bettina, in ihrer Verwirrung, wollte ihm eine neue Eins eintragen, Vorsichts halber fragte sie nach. Diese Fakten aus der Kriegszeit, sie seien ihr durchaus unbekannt, und da sie die zu verwenden plane bei einem Agitationstreffen in der Landeshauptstadt … ob sie den Schüler Lockenvitz fragen dürfe, wo er das her habe?
– Allemal: sagte der: Aus der Literaturnaja Gasjeta.
(Wußtest du: Bettina ging hin und fragte die Fachkraft für Russisch: ob das am Ende eine Emigrantenzeitschrift sei.)
Siebzehn abgetriebene Kartoffelkäfer fand die Belegung der Fritz Reuter-Oberschule, vierhundert Köpfe stark; davon waren neun Marienkäfer. Lockenvitz wollte tun was ein Freund schuldig ist und fragte: ob wir auch wüßten, daß am Verteilerschrank der Deutschen Post eine Fangliste hängt, daß fast jeden Tag paar Briefe übernachten gehen bei der Stasi (Staatssicherheit).
Diesen Lockenvitz konnten wir nun befragen nach der Zusammenkunft mit dem Dichter Hermlin an der Landsberger Allee. Lockenvitz hatte sich gedrückt um eine Lüge: in einer Straßenbahn nach Grünau verirrt bis nach Schmöckwitz, dort eingeladen, in ein Haus zu Gesprächen über Kunst in Mecklenburg, den Bildhauer Barlach; Tee und Rotwein. Lockenvitz lieh sich ein Paar Schuhe von Pius, seine eigenen warteten schon seit vier Wochen auf eine Reparatur; unbefangen sagte er uns, was er dachte: Unsere sozialistischen Errungenschaften, sie setzen immer einen voraus, dem man sie abgenommen hat, der steht nun gekränkt in der Ecke. Wo sind unsere amerikanischen Schuhbesohlanstalten geblieben?
Diesen unseren Lockenvitz suchten wir aus, als die Elf A Zwei plötzlich jemanden abstellen sollte für einen Lehrgang der F. D. J. in Dobbertin bei Goldberg.
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