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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Agrarbiologie studiert.) Deswegen war nach dem Fasching 1949 im Schaufenster der Drogerie Mallenbrandt ein erzählendes Foto zu sehen von der Festlichkeit: eine junge Frau, die Brüste zusammengequetscht im Décolleté. Ein Kind, das sich schämt. Ein Sechzehnjähriger, der von seiner Mutter geschlagen wird, weil er nach nächtlichem Herrenbesuch das Bild des Vaters von der Wand nimmt und versteckt; weil sie sich schämt vor dem Kind. Lockenvitz hatte, in einer Zeit knapp an Elektrozubehör, über einem Fenster der Wohnung eine Klingel aufgehängt von jenem Schlitten, der im Osten verblieben war, sie erreichbar gemacht mit eingepichtem Sacksband, so war er aus auf Besuch; nun schraubte er sie ab; überhörte Klopfen an der Tür.
    Ein junger Mann, der sich auskennt in der Art, wie man ein Zimmer mit Dame darin betritt. Dem geläufig ist, wie man Gabel und Messer handhabt, wenn nun ein dritter Teller für ihn hereingetragen wird aus der Küche von Frau Pagenkopf. Der aus guter Manier darauf besteht, bei ihr für jeden Imbiß sich zu bedanken, mit Dienergeste aus dem Nacken; der ein Angebot von noch einem Wurstbrot verneint. Bloß weil’s sich gehört; hungrig war er noch lange. Bis wir den glauben machten, bei uns steht kein Horcher an der Wand, der hört seine eigene Schand! Das dauerte.
    Denn es tat ihm weh zu lügen. Wenn’s die Schule verlangte, so schien ihm das eher ein Schaden für die Anstalt; auch gab er sich Mühe, es die ausführenden Pädagogen fühlen zu lassen. Bettina Selbich betrachtete ihn unruhig, wenn er ihr die sieben Gebote des »Stockholmer Appells« deklamierte:
    Ich gelobe,
    Eisenbahnzüge aufzuhalten,
    keine Waffenladungen zu löschen,
    den Fahrzeugen Treibstoff vorzuenthalten,
    den Söldnern die Waffen zu entwenden,
    meinen Kindern und Ehegatten das Kämpfen mit den Streitkräften des Landes zu verbieten,
    meiner Regierung die Lieferung von Lebensmitteln zu verweigern,
    mich einer Arbeit in Telefonzentralen oder beim Verkehrswesen zu entziehen –
    um einen neuen Krieg zu verhindern.
    Bettina war zumute, als sei an seinem Vortrag etwas auszusetzen. Er hatte ihr Reinfälle genug bereitet; sie versuchte es abermals und fragte nach der Herkunft des Textes. Anita sprach vor sich hin in die Luft, ergebenen Tons: In der Pravda, erste Juliwoche.
     
    (Wir dachten sie will dich vor Schaden bewahren. Oder ging es etwa so zu, daß sie dir solche Zettel mit Abschriften aus ihrer russischen Lektüre ins Schulheft schmuggelte?)
     
    Mit uns ging er es vorsichtig an. Da kamen Saitschik mit Eva zu Besuch, denen war es langweilig geworden beim Memorieren von Nitraten und Nitriten, die blickten fragend nach Pius’ Musikschrank vom V. E. B.  R. F. T., und wenn er als Hausherr genickt hatte, schlossen sie zwar die Fenster, unbedenklich stellten sie den Rundfunk Im Amerikanischen Sektor ein. Da lief freitags eine Schlagerparade, da sang Bully Buhlan zu Saitschiks Genuß und Spaß
    Jupp-di-du -
    du kommst ja doch nicht mit dem Kopf durch die Wand!
    Jupp-di-du -
    Nun hätte Lockenvitz beruhigt sein dürfen. Denn uns war das Abhörverbot für westliche Sender in Gegenwartskunde von Bettina mit einer Erläuterung mitgeteilt: Musiker, die aus opportunistischen Gründen den Kriegskurs von Mr. Adenower mit ihren Darbietungen ummalen, entbehren ein für alle Male des Humanismus, der sie zum Interpretieren der unsterblichen Symphonien von Mozart und Beethoven befähigte!
    Lockenvitz wartete ab, bis wir unter sechs Augen waren; bemerkte: Aus einem solchen Text aus Berlin-Schöneberg folgt immerhin ein soziologischer Kommentar: Die da drüben müssen ihre Leute beschwichtigen, sie von ihren Forderungen abbringen. So sprach Lockenvitz für die beiden, wie er sie in der Schule hatte reden hören. Pius sah mich an, die Stirn in unebenen Falten, ich hob wie ratlos die Schultern. Wir gingen mit einander um wie die Diplomaten! Pius versuchte es noch einmal. Was für eine Vorliebe denn Lockenvitz habe in der Musik?
    Lockenvitz gefalle manchmal »schräge Musik«.
    Das war der amerikanische Jazz der Frühzeit, gerade per Regierungsdekret von einer Musik der Dekadenz befördert zu insofern fortschrittlich, als entwickelt aus den Arbeitsgesängen zur Zeit der offen betriebenen Sklaverei. Gespräch nach Vorschrift betrieb dieser Junge.
    Dann machte die ostdeutsche Regierung wahr, was sie ihrer Jugend angekündigt hatte beim Deutschlandtreffen. Am 23. Juni übermittelte sie mit ihr befreundeten Regierungen die Warnung:

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