Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Anfangs behielten wir die Hand unten, als wir Manfras stimmen sahen gegen seine eigene Abwesenheit von Zuhause und Lehrplan der Schule, als Lise Wollenberg mit ihrem Votum sich rächen wollte für Vernachlässigung und ihn übrigens bestrafen wollte für landfremde Herkunft. Dann fragte Pius, wie es ihm zustand als Leiter der Klassengruppensitzung: was denn der Kandidat über so einen Ausflug denke. – Als Organisationssekretär der Z. S. G. L. muß man in einem fort die Erweiterung der Kenntnisse in der Theorie im Auge haben: antwortete der wie jemand, der will uns ein Opfer bringen. Zweite Abstimmung: einstimmig, wie es für schick galt.
Im November 1950 reiste er, im Januar hatten wir ihn wieder; das ging schlecht aus. Zu Anfang, zu Ende: ein Fehlschlag.
Wörtlich. Im November nahm das Ministerium für Staatssicherheit einen Bruder der Frau Lockenvitz in der Werft von Wismar hoch; Anklage auf Sabotage, Spionage. Frau Lockenvitz versuchte den Sohn zu schlagen, der sich üben ging in der Gedankenwelt solchen Ministeriums. Zwar hielt er ihr die Hände fest und sagte in einer ärztlich abwägenden Art, sie komme ihm hysterisch vor; abgelenkt von Neugier erkundigte sie sich nach den Symptomen dieser Krankheit, unzufrieden mit seinen Bescheiden. Nun saß er in der Fremde und mußte sich auch noch den Wunsch zu einer Rückkehr nach Gneez zur Wohnung im Barbara-Viertel verkneifen.
Das Ende in Dobbertin, er hat es für sich behalten. Es wird so gewesen sein, daß einer der Instruktoren besser Bescheid wissen wollte über das dritte Grundgesetz der Dialektik; das kann einem eine ungünstige Schlußnote einbringen und statt eines »Abzeichens für Gutes Wissen« in Gold eines ins Bronze.
Denn seine erste Frage an Bettinchen war: wenn die Quantität beim unvermeidlichen Wachsen einmal doch ihr Wesen ändern muß und umschlagen in eine Qualität, wie verhalte es sich demnach bei einem Vergleich zwischen dem Gehirn Turgenjews und dem eines Elefanten?
( LOCKENVITZ , in den Zeiten vor der Ausbildung in Dobbertin: Kindern müßte es erspart bleiben. Als ich 1946 auf Klingeln in Budniaks Haus an die Tür ging, standen da zwei Leute, die fragten nach Frau Scharrel. Frau Scharrel wohnte im ersten Stock und war eine Schieberin; von Beruf. Frau Scharrel: Sag man ich bin na de Wißmer! schwer ist es mir gefallen. Erwachsenen gehorcht man, stimmt’s? Beim ersten Mal, das vergißt sich; wenn man Glück hat. 1948 hat die Katechetin uns befragt: wer denn in seinem Leben noch nie gelogen habe. Da meldete ich mich, weil sonst keiner mochte; Trick Sieben! So hatte ich mir zu der ersten Lüge eine zweite eingehandelt. Jetzt läuft’s ja, technisch gesehen. Aber Kindern sollte es erspart bleiben.
Das Kind Lockenvitz, als es 1949 das Alte Testament zum zweiten Mal studiert hatte, es bat um eine Audienz beim Domprediger von Gneez und erklärte dem Genossen Pastor säuberlich, aus welchen Gründen es fürderhin den Zusammenkünften der Jungen Gemeinde fern sich halten werde. Damit ja kein Zweifel bestehe über diesen Fünfzehnjährigen.)
Verbissen war er. In sich gekehrt. Verlor den Spaß, Bettinchen zu necken. Fiel ab in Latein. Fiel vom Fleische; sitzt in der Erinnerung, besessen von Nachdenken hinter der ärmlichen Brille, in einem Blauhemd, das schlägt Falten. Dann kam der 12. Januar 1951, da wurde in Dresden ein achtzehnjähriger Oberschüler zum Tode verurteilt, wegen »Boykotthetze« und Mordversuch an einem Volkspolizisten (mit einem Taschenmesser); in Gneez ging die Kripo ungetarnt in die Renaissance-Lichtspiele, um einmal herauszufinden, wer da murmelt oder lacht, sobald in Bild und Ton der südlich artikulierende Sachwalter erschien, der das Urteil für angemessen hielt; auch nachdem die Strafe ermäßigt war auf fünfzehn Jahre Gefängnis. Das brachte die weibliche Kommanditistin der Arbeitsgemeinschaft bei Pagenkopfs auf die achtlose Erwägung: Wenn es denn wahr sein sollte, daß dieser Staatsmann den Amerikanern so lästig falle, warum versäumen sie denn nun im dritten Jahre, ihn umzubringen.
Zu unser aller Glück tat sie das unter freiem Himmel, abends auf dem Eislaufplatz von Gneez. Denn Lockenvitz lief nur ein paar Minuten schweigend ein paar Achten für sich allein, dann schwenkte er innen ein auf unsere Runde und gab uns an, was er nun zu denken gelernt hatte. Das Eis war grau in der Dunkelheit, da muß man die Augen fix auf der Bahn halten. Manchmal knirschte eine Kufe; in einem fort wurde die Nacht weiter um uns
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