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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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sie leicht gefunden, auf einem Gang über den Schulhof hin und zurück, ihren Turnbeutel sichtbarlich an der Hand. Wenn Annette dir eine Hand hinstreckt, wie immer heimlich, sie darf dich für hochnäsig halten, wenn nun du anderes im Kopf hast als Mädchen. Aber es wäre dir zum Besseren ausgefallen, hättest du sie finden wollen.)
     
    In unsere Arbeitsgemeinschaft kam Lockenvitz nun zur ausgemachten Stunde, ging sofort nach Lösung der Aufgaben in Mathematik oder Chemie. Pius bat mich ein einziges Mal, ihn zu befragen, wie er sich das vorstellte unter den Begabungen einer Frau; ich wehrte das ab, ich hatte Angst vor Lockenvitz’ Mutter; um keinen Preis hätt ich hören wollen, er sei vergeblich verliebt in wen. Lockenvitz meinte es wohl als Entschuldigung für sein verschlossenes Betragen, als Geschenk, wenn er einen Zettel mitbrachte mit Auskunft über was ihn fern hielt von uns:
    Zwischen die Begebenheiten und das freie Auffassen derselben stellen sie eine Menge von Begriffen und Zwecken hinein und verlangen, daß das, was geschieht, diesen gemäß sein soll.
    Wir drangen in ihn, dies der Selbich anzudrehen als einen Befund über das Fach Gegenwartskunde (in einem imperialistischen Staat), zumal sie nie darauf kommen würde, wer das geschrieben hatte (G. W. F. Hegel, 1802). Er schüttelte die Locken aus der Stirn, lachte ärgerlich; als sei er über Spiele mit Bettinchen hinaus.
    Strikte hielten Pius und ich den Mund, als wir ihn eines Novembernachmittags aus dem Haus kommen sahen, in dem Bettina S. für treues Ausharren mit einer Wohnung belehnt war.
    Mit Saitschik waren wir böse ein halbes Jahr. Der wollte einen Briefwechsel mit Mädchen aus sozialistischem englischen Hause gern mit einem Kumpan zusammen treiben. Lockenvitz tat ihm den Gefallen, schrieb auch etwas nach Wolverhampton für den Frieden und die Postzensur. Dann fand er heraus, daß Saitschik in seinen Umschlag, zwecks Vorstellung, eine Fotografie von Pius geschmuggelt hatte, weil dieser Knabe ihm mehr anziehend erschien für ein junges Mädchenauge (unter den Mädchen der Elf A Zwei galt Pius bloß als »apart«, Lockenvitz als »unser schöner junger Mann«). Hoffentlich tat es ihm wohl, daß wir zu ihm hielten in so erheblicher Sache.
    Lockenvitz war der erste an unserer Schule, der trug eine Brille mit Rahmen aus Plexiglas, nachweislich in der Stalinstraße erworben. (Die Optiker waren Schonwild in ganz Mecklenburg, gefeit gegen Tiefenprüfungen von seiten der Steuerfahndung, leisteten sich fast großstädtische Auslagen: kaum je ein Optiker in Mecklenburg vor Gericht.)
    Hatte kein Jackett nach canadischem Vorbild.
    In die Ferien fuhren wir jeder hübsch allein, Pius wie Cresspahls Tochter, so auch Lockenvitz.
    Einen Posten in seiner Rechnung, wenn’s denn eine war, hatte er unachtsam kalkuliert. Vegetative Dystonie und ausdauerndes Radfahren, es geht schlecht zusammen.
    Denn er fuhr wie ein gesunder Mensch, vierzig Kilometer in der Stunde, das war ein Klacks für ihn. Eine halbe Stunde hätte der gebraucht bis Jerichow! aber er reiste auf zwei Rädern auswärts an den Wochenenden. Wir konnten nur hoffen, daß es keinem auffiel.
    Matthäus XVI . 26. Ja, Schiet!
    Liebe Marie, dies ist alles, was ich von Dieter Lockenvitz zu wissen
glaube.
    6. August, 1968 Tuesday
    Wollen wir durch diesen Tag kommen in einem Zug, wir werden Nummern brauchen müssen.
     
    I .
    Wenn einer in New York, und bei ihm ist eingebrochen, so kann er sich blau und gelb warten, bis Ersatz kommt von der Versicherung. Hat jemand jedoch seine Prämien gezahlt unter einem Plan, der von de Rosny ausgedacht ist, so darf man am Dienstag ein Verzeichnis der verlorenen Gegenstände einrichten, beglaubigt durch das Revier 23, und kriegt ausgerechnet eine Woche danach mit der Hauspost einen Bankscheck, gutes Geld, zahlbar von Manhattan bis Leningrad.
    So wie de Rosnys Bank an den Versicherungsträgern auch derer verdienen will, die er »meine Mitarbeiter« nennt, so soll ein hauseigenes Reisebüro Gewinn ziehen aus den Kosten, die sie auf Ferienreisen wenden können. Wer dies Zimmer im achtzehnten Stock betritt ohne das Fünfstrichsymbol des Geldinstituts über dem Herzen, ohne Namensschild, in einem weißen Leinenkostüm wie eine Passantin vom Bürgersteig her, wird erst einmal darauf hingewiesen, daß dies kein öffentlicher Betrieb sei.
    – Das ist mir bekannt: erwidert Mrs. Cresspahl, zufrieden. Hier ist sie einmal unbekannt als »unsere« Deutsche, »unsere« Dänin. Das

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