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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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und die verhärtete, fast erwachsene, gleichmütige Stimme von Lockenvitz:
    – Früher, wenn der anführende Fürst fiel in offener Feldschlacht, war das ungünstig für die Moral der Truppe. Heute würde das bloß führen zu dem Bedürfnis, die Reihen zu schließen. Unsicher ist das Ergebnis allemal; der Nachfolger kann sich noch aggressiver benehmen. Was der an Strategie im Sinn hat, man muß es raten; vorher wußte man, was man hat an ihm. Entbehrlich ist so eine Einzelperson gewiß, auch wenn sie die Macht verwaltet; außer sie besitzt ein Charisma, mit den Fähigkeiten dazu; was selten ist. Werte Lieben in Moskau immer ausgeschlossen. Ableitung: die Maschine ist im Gang, die läuft weiter. Zweitens. Auch der Krieg ist noch heute kein unnormiertes free-for-all, wo jeder mal darf wie er kann. Auf solche Normen beruft man sich in den höheren Regionen, grade weil man sie gelegentlich (heimlich) verletzt. So eine stillschweigende Norm verbietet auch das Ermorden der gegnerischen Führer außerhalb der offenen Schlacht. Werden Normen solcher Güte dreist und bewußt verletzt, verkümmert das Vertrauen in die Geltung aller begrenzenden Übereinkünfte. Die Folge kann ein Gegenschlag mit Nervengas auf die überführte Hauptstadt sein. Ableitung: Furcht vor den negativen Auswirkungen einer zentralen Normverletzung auf den Täter selber. Und darum bleibt alles wie es ist.
    – Grammatiker: hatte er gesagt, als die Elf A Zwei ein Jahr vorher ihre Berufswünsche aufsagen sollte. – Und was willst du jetzt werden, Jugendfreund? Historiker?
    – Lateinlehrer: sagte Lockenvitz, grimmig.
    Das war der Januar, da traten im Westen Deutschlands die Hohen Kommissare der Alliierten auf dem Petersberg zusammen mit dem Bundeskanzler, seinem Gehilfen und zwei Generalen zwecks Beratung über neuerdings eine Bewaffnung von Deutschen.
    Das war der Januar, da schickte die ostdeutsche Volkspolizei Werber in die Oberschulen, die kamen mit dem Blauhemd unter der Uniformjacke und sprachen mit den Jungen der Elf A Zwei wie ein Jugendfreund zu anderen. Sie versprachen Ausbildung am fahrenden, schwimmenden, fliegenden Gerät. Lockenvitz machte bei Dr. Schürenberg einen Termin aus auf die Minuten genau, vollführte im Flur der Villa am Kurpfuscherdamm von Gneez zwölf Kniebeugen, wiederholte die Übung vor dem ärztlichen Schreibtisch; bekam einen Zettel, der bescheinigte vegetative Dystonie.
    Damit die Schulleitung es auch glaubte, beantragte er Befreiung vom Unterricht in Sport. Ging fortan aus der Schule, wenn der Lulatsch uns über die Pferde jagte, ums Reck drehte; spazierte allein. Hockte bei Spielen mit Hand- oder Fußball hinter dem Tor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn auf über einander gelegte Hände, sah zu und fiel aus den Wolken, wenn ein Mädchen ihn nach dem Torstand fragte.
    Zu Beginn des Schuljahrs 1951/52, aufgestellt zu einem zweiten Turnus als Org.-Leiter, schlug er die Kandidatur aus; Begründung: Förderung seiner schulischen Leistungen. (Was hatte er groß zu tun, als uns zusammenzurufen zu Aufzügen, Aktionen gegen Kartoffelkäferbanditen, Versammlungen; als einmal im Monat auf den vorgedruckten Fragebögen an den Zentralrat der Jugend zu melden: daß wir diese Anstalten in Sachen des Friedens getan hätten, und wie viele Angehörige der Schulgruppe die Zeitung des Verbandes gegen Geld bezögen, die Junge Welt.) Er stand auf Eins in Latein, Englisch, Deutsch, Gegenwartskunde, auf Zwei in den übrigen Fächern, bis auf die Drei in Chemie, ihm lästig wie eine Zecke.
    Fand zu Weihnachten 1951 einen Beutel an der Tür seiner Mutter hängen, angefüllt mit Pfeffernüssen, Walnüssen, einem Schreibblock aus tintenfestem Leinenpapier und einem Paar Handschuhen, die hatte keine Maschine gestrickt. Ein frisch gewaschener Turnbeutel war das, mit einer Zugschnur, wie Mädchen ihn benutzten. Lockenvitz kam und wollte sich bedanken bei Gesine Cresspahl.
    Die war unzufrieden mit sich, sie wäre gern selber auf den Einfall geraten; mußte ihm ihre Unschuld versichern.
     
    (Wenn du doch gewußt hättest, es kam von der Annette Dühr aus der Zehn A Zwei. Die war so hübsch, so ansehnlich mit ihren Haselnußaugen, ihren schwarzbraunen Zöpfen, einem Gesicht, das lud Zutrauen ein. Die war später Stewardess bei der ostdeutschen Lufthansa, dafür durfte sie bei der PanAmerican lernen, wurde nach der Rückkehr abgebildet auf dem Titelbild der Berliner Neuen Illustrierten. Die mochte dich, die wollte dir gefallen. Du hättest

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