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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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gewinkt und Heil gerufen hatte, bebend vor Begeisterung, wenn der Mann Hitlers in Mecklenburg einen Auftritt veranstaltete mit Durchfahrt in Gneez. Davon will einer los; dem nahmen wir den schaurigen Ernst ab, mit dem er nun sich bekannte zu einem anderen Sozialismus. Den belächelten wir nur wenig, wenn er berichtete von seinen Erfolgen als »Volkskorrespondent«, wenn ein »gms« als Namenskürzel stand unter einem Bericht der Schweriner Volkszeitung über einen Wettkampf im Eislaufen oder Skispringen, da hatte die Mannschaft der U. S. A. gesiegt. Das fehlte bei »gms«, bei dem stand das so: Die Sowjetunion belegte den ehrenvollen zweiten Platz.
    Die Schülerin Cresspahl war noch der Zeiten in der Grundschule von Jerichow gewahr, da hatte sie einmal sich bemerklich machen wollen für dieses wortkarge, finster brütende Kind mit dem akkuraten Seitenscheitel; bloß als Witz und aus Freude daran erzählte sie ein Beispiel für Sowjet-Darwinismus, ohne der Hörweite bis zu Gabriel Manfras zu achten: Der sowjetische Gelehrte Mitschurin liest über Insekten. Er zeigt seinen Hörern einen Floh auf seiner rechten Hand, er befiehlt ihm auf die linke zu springen. Der Floh tut’s, auch im wiederholten Versuch. Nunmehr entfernt der Professor dem Floh die Beine, und befiehlt ihm abermals zu springen. Der Floh verweigert; worauf der wissenschaftliche Beweis erbracht sei, daß eine Amputation von Flohbeinen den Patienten zum Ertauben bringe … Gesine Cresspahl lachte, aus Spaß an der Verdrehung des Gedankens; weil es ihr recht war, daß andere Kinder mit ihr lachten. Sie hätte mehr achten sollen auf die mühsame, verächtliche Grimasse, die das Kind Manfras sich ins Gesicht quälte.
    Der Schüler Lockenvitz bedachte gewiß nur eine grammatische Feinheit, wenn er den Namen der Deutschen Volkspolizei abhorchte, auf einen possessiven oder akkusativen Genitiv. Wer besaß da wen, und stand da wer gegen wen? Es ging ihm um Semantisches, wenn er den Begriff der res publica als Sache des Volkes übersetzte, und eine Tautologie vermutete in der Bezeichnung »Volksrepublik«. Schon die Frage, warum man sie China und Polen zugestand, von einer »Volksrepublik Deutschland« vorläufig absah, sie sollte ihm späterhin von Schaden sein. Dank Manfras.
    Auf verborgenen Wegen lief an der Schule ein Buch um, das hieß »Ich wählte die Freiheit«, war verfaßt von einem abgesprungenen Mitglied der sowjetischen Einkaufskommission in Washington D. C., berichtete von erzwungener Kameradenbespitzelung, institutionellen Fälschungen in der industriellen Produktion, Gewalt beim staatspolizeilichen Verhör, Konzentrationslagern und Zwangsarbeiterkolonien in der Sowjetunion. Dieser Viktor Kravtschenko hatte eine kommunistische Zeitung in Frankreich verklagen müssen, weil sie ihn verleumdet hatte als einen bezahlten Hetzer der Amerikaner; ein Gericht in Paris hatte seinen Wahrheitsbeweisen recht gegeben. Wenn Dicken Sieboldt das Cresspahls Tochter im Vertrauen verlieh, mußte er ihr eben Verstand zutrauen beim Weitergeben; Lockenvitz bemängelte die Sprache des Berichts, oder doch die deutsche Übersetzung. Daraufhin verzichtete Pius auf die Lektüre, ließ sich den Inhalt berichten. Nun kam Gabriel Manfras an mit zutraulichem Blick, schob das Gespräch auf Argumente des Feindes, daß man sie kennen müsse, und seien sie enthalten in einem Buch, das heiße … Auch weil es Gabriels Einbildung von der Sowjetunion schmerzhaft beschädigen könnte, wo so frei das Herz dem Menschen schlägt in der schirokaja natura, stritt sie die Kenntnis von solcher Druckschrift ab. Sie meinte, der Inhalt könne einen Streit mit Gabriel in Gang bringen, mit kränkendem Ausgang für ihn; das wollte sie dem Kinde ersparen.
    Auf dem Markt von Gneez, dem neuen, dudelte ein Trumeau-Lautsprecher den ganzen Tag, vom Morgen an, wenn die verschlafenen Arbeiter aus den Zügen stiegen, bis zum Abend, wenn sie eine Ruhe verdient hatten. Da hallte der Klageruf: Wir wollen nicht für den Dollar sterben! – Das schon: sagte Pius, grüblerisch: aber warum werden auf der Mustermesse in Leipzig alle Geschäfte auf Dollarbasis abgeschlossen? Das trug Manfras eilends zur Fachkraft Selbich. Aber Pius war fast schon Soldat, angetreten zum Schutze der Republik, dem konnte sie schlecht an den Wagen fahren. So tat sie denn, als sei sie gefragt worden von irgend jemandem in der Elf A Zwei, und erläuterte der Klasse einstweilen unumgängliche Zwänge des Weltwirtschaftsmarktes; mühsam, vom

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