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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Schaffner mit ihr über die offensichtliche Tatsache, daß das Unterbringen einer solchen Fahrmaschine im Gepäcknetz eines D-Zuges untersagt ist, verbotten! Beim Umsteigen nach Berlin ließ Anita das Rad im amtlichen Ständer verschlossen zurück. In den Wäldern westlich von Neustrelitz schläft und übt die Rote Armee, wie die Erbsen in der Schote sitzen sie da; da wurde demnächst ein Herrenfahrrad aus ostdeutscher Produktion als Prämie ausgelost. Falls es Faktionen gibt in der Sowjetischen Armee, und Anita schickt an sie Briefe, mit Fahrradschlüsseln darin.
    Das war zu Himmelfahrt. Das militärische Sperrgebiet, das schwingende Land, es hat geleuchtet aus der Ferne. (– ANITA .)
    10. August, 1968 Sonnabend Tag der South Ferry
    Ein Stadtstreicher, nur bekannt als Red, kletterte gestern auf die Mastspitze des Leuchtschiffes an der Fulton Street. Den Bürgermeister Lindsay wollte er sprechen. Die N. Y. Times zeigt uns in drei Fotos, wie er sich zu Tode stürzte; sie nennt die Filmsorte, die sie benutzte, sie gibt die Belichtungszeiten. Als Gebrauchsanweisung?
    Ein britisches Passagierflugzeug ist gestern im Bayerischen abgestürzt. Achtundvierzig Leute an Bord, alle tot. Wir fliegen auch bald.
    In der Schule Hitlers waren wir gewarnt worden vor dem abgebrochenen Schatten eines Mannes mit Plutokratenhut: Feind hört mit. In der Neuen Schule lernten wir einander warnen: Jugendfreund hört mit.
    Anfangs hatten wir die Lautsprecher in jedem Klassenraum verdächtigt, da sie eben bloß die Laufzettel ersetzten, auf denen bis 1950 schulische Bekanntmachungen umhergetragen wurden. Wenn sie auch Vorrichtungen enthielten zum Übertragen von Geräusch in anderer Richtung, mochten sie taugen, den Lehrer bei seiner Arbeit zu überwachen; wir hielten sie für unfähig, aus den Gesprächen in der Pause die Stimmen von dreißig Schülern zu sortieren. In der Tat, dazu brauchte es einen Menschen.
    In der Stunde für die Kunde von der Gegenwart waren wir belehrt worden über das Verbrecherische an der Sprache Hitlers, wie es sich ergebe aus dem Worte »Untermensch«; in der Pause sagte Saitschik achtlos, mit Spaß an der Erinnerung: Wenn’ck je ein seihn hev, denn wier dat Fiete Hildebrandt. Das war der ehemalige »landwirtschaftliche Nachtschutzbeamte« Friedrich Hildebrandt, von Adolf Hitler als Gauleiter und Reichsstatthalter über das gute Land Mecklenburg gesetzt; Pius gab zur Auskunft in einer einverstandenen Art, der sei 1945 auf freier Feldmark bei Wismar erschossen worden. Die Cresspahlsche widersprach: 1947 von einem amerikanischen Militärgericht zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet zu Landsberg am Lech. Das hatte sie von ihrem Vater, der hörte sich um nach dem weiteren Lebensweg solcher Goldfasane. Für ihn war allein der Name Hildebrandts noch vor fünf Jahren eine tägliche Bedrohung gewesen; Wallschläger, der Strahlende, hatte den Reichsverteidigungskommissar von 1945 ins Kirchengebet eingeschlossen. In der Lehrerkonferenz vom Juni 1950 wurde über die Tatsache beraten, daß in der Zehn A Zwei eine bedenkliche Aufmerksamkeit grassiere für Nachrichten, wie die staatliche Presse sie dem ostdeutschen Volke vorenthalte als ungesund, eine verräterische Teilnahme am Schicksal von Verbrechern. Wir sahen um uns, auf die anderen Kinder in der Klasse; wer von ihnen hatte ein Ohr auf uns, lieferte unser erleichtertes Geschwätz ab bei einer Obrigkeit?
    Wer brachte es über sich, die Lehrerin Habelschwerdt ans Messer der Strafversetzung zu liefern, indem er sie heimlich zitierte mit ihrem dummen Spruch vom Gemeinschaftsgefühl der Schüler? Gewiß war das ein pädagogisches Ziel der Hitlerschule gewesen, oder hatte doch so geheißen; wer das jahrelang hat aufsagen müssen, wird einmal sich versprechen dürfen. Daß Frau Habelschwerdt nunmehr ihre naturwissenschaftlichen Begabungen verschleuderte mit Rechenunterricht an der Niklot-Grundschule, verdankte sie es jemand von uns, mit dem gingen wir schwimmen, dem gaben wir gelegentlich die Hand?
    Auf Gabriel Manfras kamen wir zuletzt. Einmal, wie sollte es denn glaublich sein, daß der Oberste Vorstand der F. D. J.-Schulgruppe Zeit und Mühe verschwendete auf Zuträgerei. Zum anderen, da war ein Bedürfnis ihn zu schonen, das verstellte uns den Blick. Gabriel Manfras war gestraft mit einer Mutter, die drohte ihm noch fünf Jahre nach dem Krieg: Unser Führer kehrt wieder und wird dich richten! Gabriel war geschlagen mit der Erinnerung an das Spalier, in dem auch er

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