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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Fahrbahn hin, statt zum Gehsteig. Wenn dann die Taxigenossenschaft Gneez die Entsendung eines Wagens nach Jerichow, so bloß auf Treu und Glauben, von sich weist als volkswirtschaftlich unvertretbar, kann man sich in Jerichow fühlen wie gestrandet, auf Ölandinsel ausgesetzt. Der Schienenersatzverkehr war erst für siebzehn Uhr versprochen; die Fahrer nahmen es recht beliebig mit den Zeiten; fürsorgliche Warnung eines Polizisten in grüner Uniform.
    Anita ging quer gegenüber zu dem ehemals Wollenbergschen Laden; dreist mecklenburgisch sprechend erwarb sie ein Herrenfahrrad. Auf der Hauptstraße mußte sie es an der Hand führen, wegen der Katzenkopfsteine und des Anstoßes, den es gegeben hätte wegen ihres kurzen Rocks. Dann fuhr sie die neunzehn Kilometer nach Süden in einer bequemen Stunde, wieder und wieder attackiert von einer rotweißrot gestrichenen Fliegemaschine, die hätte an diesem Nachmittag Dünger verstreuen sollen. Der Pilot mag seine Freude gehabt haben an Anitas wippendem Rock.
    Was Anita vermißte in so nördlicher Gegend: ein Schild mit einem Eierkorb darauf gemalt, deutender Hand: 300 m. Leute mit fahrbaren Verkaufstischen an den Straßen, die »Aal räucherfrisch« anboten; Himbeeren, Erdbeeren, die alte Frauen in den Gärten daneben pflücken.
    Im Wald westlich von Gneez, an der Straße von Lübeck nach Rostock (Fährverbindung nach Dänemark) stieß sie auf das Hotel zum fröhlichen Transit. Ehemals eine Ausfluggaststätte, stand da nun ein solider Bau aus zwei Stockwerken, leuchtend in seinem weißen Rauhputz, den Wald und Anita auf Fahrrad spiegelnd in golden getönten Fenstern; rückseitig eine Reihe von Bungalows aus vorgefertigten Bauteilen, jedes Hüttchen mit einer Fernsehantenne versehen.
    Der Mann hinter der Theke des Empfangs glaubte sie verirrt, nickte herrisch hinüber zu dem Anschlag gegenüber dem fotografischen Abbilde des Sachwalters: Hier werden fremde Währungen in Zahlung genommen: Mark und Pfund und Dollar und französische Francs. Das glaubte Anita wohl; was sie fragt ist: warum besteht die Einheitspartei gerade bei den deutschen Geldern auf einer Parität?
    Umsessen von westdeutschen Leuten auf der Durchreise speiste Anita gerösteten Aal von Markenporzellan, mit Silberbesteck, trank einen Chablis aus dem Kristallglas. Ließ sich die Vorgänge erklären von dem jungen Mädchen, dem die Hotelfachschule zur Erlangung von Devisen sichtlich in den Gräten saß: Da Sie den Essensvorgang doch nunmehr beendet haben, muß ich Ihnen den Brotkorb abräumen! das hab ich so gelernt! Mitten in Nordwestmecklenburg wurde Anita für Dollars bedient.
    In Gneez gibt es keine Joachim de Catt-Straße.
    Von dem Namen »Straße der nationalen Einheit« sind noch die Spuren der Einheit zu sehen. Sonst ist sie nach dem ersten Staatspräsidenten benannt und führt immer noch nach Schwerin.
    Auch in Gneez keine Schlange vor den Schnapsgeschäften (im Hotel Stadt Gneez eine Schlange vor dem ehemaligen Direktorzimmer, wo westliche Waschmittel und Schokoladen und Spirituosen gegen westliche Währung über die Theke gewischt wurden, so fix ging das). Aber, Gesine: dein Mecklenburg trinkt nun schon früh am Tag. Das Restaurant im Hauptbahnhof immer noch geschlossen, der Wartesaal dicht besetzt von Biertrinkern. Abgeschottete Gespräche: Zehntausint Platten angemacht, davon sind die Hälfte lose; davon red’t bloß ein Knallkopp. – Es gipt aber welche, die redn da über.
    Hier nahmen sie von Anita auch wieder das Geld des Landes; pikiert. Hier hatte seit langem kein Gast einen Tee mit Zitrone verlangt, wie er allerdings auf der Speisekarte angeboten war (Die Kalkulation kann eingesehen werden. Das Beschwerdebuch liegt aus). Der Tee kam dann auch. Alle blickten mit Vorwurf auf die Fremde. So ein Bier gegen fünf Uhr nachmittags, das ist doch das Gegebene!
    Die Geldscheine zeigten Humboldt zu fünf Mark, Goethe zu zwanzig, Karl Heinrich Marx zu hundert.
    Auf den Gleisen vor den beiden schlierigen Fenstern drückte eine schwere Diesellokomotive sowjetischer Bauart den Unterbau kaputt. Auf den Markstücken stand noch das Wort »Deutsche«, auf den Pfennigen fehlte es bereits.
    Alle Versuche Anitas, das Fahrrad an einen Mann zu bringen, sie gingen in ein verlegenes Daneben. So viele Hundert an Mark hatte keiner vorrätig beim Biertrinken. Mit verwirrten Ahnungen sahen sie an, wie Anita mit dem Reisegerät in ein Abteil Erster des Schnellzuges nach Neustrelitz stieg. An die neunzig Kilometer stritt der

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