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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Lehrerkonferenz sich zu rechtfertigen. Dort wurde der Schüler Haase von der Fachkraft Selbich mit der Tatsache bedroht, daß er nach dem volkswirtschaftlich vertretbaren Verstauen der Briketts Muße gefunden habe, die Renaissance-Lichtspiele zu besuchen. Statt den Kartoffelkäferfahndern auf dem Fahrrade nachzueilen! Während wir im Klassenzimmer auf das Consilium abeundi warteten, vertraute Saitschik uns an, wer ihn reingelegt habe; er war vor dem Kino auf den mit Politdienst entschuldigten Schüler Manfras gestoßen. (Es gibt ein Foto von dieser Armesünderbank, da hat Saitschik seinen Jackenkragen am Haken des Kartenständers befestigt, und steht mit schiefem Hals, hängenden Armen, als würde er gerade peinlich gehenkt.) Eine reuige Anita rettete ihr Vertrag mit den Sowjets; über einer reuigen Schülerin Cresspahl flog ein Schutzengel im Kreis; der hatte Bettina in Westberlin fotografiert; Saitschik bekam angerechnet, daß er immerhin durch das Filmkunstwerk Rat der Götter sich habe aufklären lassen über die imperialistische Verschwörung, ansonsten eine geharnischte Verwarnung, und bedankte sich für die Gnade des Kollegiums.
    Die Bekanntmachung übernahm Anita. Es war ungewöhnlich, daß die Schülerin Gantlik in einer Pause vor den Tisch des Schülers Manfras tritt, als habe sie ihm etwas Dringliches mitzuteilen; weswegen es still wurde in der Klasse und jedermann das wütige Zucken der beiden rötlichen Haarspitzen im Nacken sah, ihre vor Leidenschaft orgelnde Stimme hörte: Wer Gespräche unter uns, die wir führen mit einander im Vertrauen, wer Sachen aus der Familie und dem Privatleben ins Rektorat schleppt und auf die Partei, der ist, der ist –
    Was war die schlimmste Verdammung aus Anitas Munde? der ist ein schlechter Mensch.
    Gabriel hielt sein kahl gewordenes Gesicht still, versuchte aufmerksam auszusehen, nickte wohl auch einmal wie jemand, der für die politisch notwendige Sache auch dies noch zu erdulden gewillt ist.
    Seitdem gedenken wir seiner, wenn die Rede ist von Les Lettres Françaises, oder vom Verleumden einer offenbarten Wahrheit. Das hinwiederum bringt uns auf den Anblick, den er bot bei der Festkundgebung zum Abschluß des Schuljahres 1951/52, als er hinter dem roten Tisch des Präsidiums stand und besinnlich mitsang im Chor, was uns seit dem Juli 1950 auferlegt war als Sachverhalt und Bekenntnis:
    Die Partei, die Partei, die hat immer recht!
    Und, Genossen, es bleibe dabei …
    Sie hat uns alles gegeben.
    Sonne und Wind. Und sie geizte nie.
    Wo sie war, war das Leben,
    Was wir sind, sind wir durch sie.
    Gewiß ist uns gewärtig, was ein Gericht in Ostdeutschland befunden hat über Leute wie dich: der Ausdruck »Denunziant« sei keine Beleidigung, sondern eine Berufsbeschreibung. Da es nun einmal zu den Pflichten eines Hausvertrauensmannes gehöre, die politische Führung zu versorgen mit Nachrichten über die Bevölkerung.
    Zuverlässig bist du uns erinnerlich. Denn du warst es, der hat unsere Klasse Zehn A Zwei verwandelt in einen Einschüchterungssalon. Dir ist zu danken, wenn die Schule von der elften Klasse an eine einzige Angstpartie war. Na, sei froh.
    Denn sie hat dir fast alles gegeben, die Partei, Sonnenschein und nie Wind von vorn. Das fing an mit der Aufnahme in ihren Kandidatenstand 1951. Das ging weiter so, daß sie dir einen Studienplatz an der Humboldt-Universität von Berlin ein Jahr im voraus versprach. Ihr Vertrauen in den Jugendfreund und Genossen Manfras, sie bewies es; er durfte seine marxistischen Studien ergänzen durch Besuche und Aufenthalte im British Centre von Westberlin. Da ist eine Einschränkung; wir gönnen sie ihm. Da er Büdners Sohn ist, statt Landarbeiters, ermangelt er proletarischen Adels; weswegen er immer noch ausgeschlossen ist von jenen Versammlungen am Werderschen Markt von Berlin an jedem Dienstag, wo entschieden wird über die ostdeutsche Politik gegen Innen und Außen. Weswegen der Genosse Manfras um so eifriger bemüht ist, solche Beschlüsse zu erläutern; Anita betrachtet ihn gelegentlich auf dem Fernsehschirm, für Sekunden. Dafür wird er belohnt in Fülle, ohne Geiz; er darf in die Staatsbank gehen und sich nehmen aus dem Devisenschrank, wes er gerade bedarf, für ungehinderte Reisen in die Länder seiner Gegner. Sein Englisch, es soll inzwischen international sein, mit Anklängen ans Britische. Eine Villa am Müggelsee, Auto und Kaderschutz (Einkaufsprivilegien in Westberlin); es ist alles da. Sein einzig Sehnen, es geht auf die

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