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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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abgehalten im Landgericht am 15. Mai 1952 vormittags; zwar sollte im Protokoll etwas stehen von Öffentlichkeit, aber keine anwesend sein im Saal. Hier hatten die Schülerinnen Gantlik und Cresspahl vorgesorgt mit der Straftat einer vollendeten Bestechung an dem Justizangestellten Nomenscio Sednondico, welcher Herr N. S. über Elise Bock die Klasse Zwölf A Zwei so pünktlich verständigte, daß noch vor Beginn der Veranstaltung im Landgericht eine Zusammenrottung junger Bürger im stolzen Blauhemd Einlaß verlangte; es wurden Rufe laut wie: Freundschaft siegt, Freundschaft siegt! oder: Wir sind die Klasse des Angeklagten! Unter den Zudringlingen die Kollegin B. Selbich, die dem Auszug ihrer Untergebenen hatte folgen müssen, um den offenen Aufstand zu vertuschen; tatsächlich war es ihrer beflissenen Feigheit zu verdanken, daß wir ihn noch einmal sahen, den ehemaligen Oberschüler Lockenvitz.
    Sichtlich hatte die Staatssicherheit an dem ausprobiert, was seine Zettel ihr nachsagten. Sie hätte etwas verbergen können, wäre sie weniger geizig gewesen, hinter einer Brille von der Art der zerschlagenen. Nun wurde er hineingeführt mit nacktem Gesicht, tat blind, stolperte; hing auf dem Sünderstuhl, als gehe schon das über seine Kraft. Der mochte den Kopf horchend halten; einen Blick auf uns vermied er. Weil ihm die oberen Vorderzähne abhanden gekommen waren, Schwierigkeiten in der Lautbildung.
    Zeugenaussage MANFRAS : Die Arbeit des Angeklagten in der Zentralen SchulGruppenLeitung, praktisch war das schon Sabotage.
    (Was an Arbeit vorkam in der Organisation der freien deutschen Jugend, Lockenvitz hatte es erledigt; Gabriels Teil waren die Jahresansprachen gewesen, die Einschätzungen der Welt im Überblick. Nun bezichtigte er sich mangelnder Wachsamkeit, wie sie der Große Genosse Stalin …)
    Zeugenaussage WESTPHAL : Dieter Lockenvitz hat seit 1948 geholfen, die Bibliothek des Kulturbundes aufzubauen, im Katalog, bei den Bestellvorgängen; so kennt er die Räumlichkeiten. Wie soll ich ihn verdächtigen, daß er abends ein Fenster offen läßt, damit er nachts einsteigen kann und auf der Maschine schreiben?
    Zeugenaussage der Mutter LOCKENVITZ : Mein Sohn ist ein verschlossenes Kind. Das kann er weder von mir haben noch von seinem Vater.
    Zeugenaussage SELBICH : Entfiel. (Nachmittagsbesuche am gneezer Rosengarten.)
    Der Staatsanwalt hatte auf dem Lehrgang für Volksrichter einen Unterricht im Deutschen versäumt. Wildes Umhertappen in der Grammatik. Umkippende Stimme beim falschen Artikulieren von Fremdwörtern.
    Der Versuch des Angeklagten, sich ein Abitur zu erschleichen. (Es wär eines gewesen, wie es einmal vorkommt im Jahrzehnt (abgesehen von Chemie). Der Angeklagte war eben bestimmt für jene Zeiten, da es einem Menschen ergehen soll nach seinen Fähigkeiten.)
    Die ungeheuerliche Ambition (Ambítzion) des Angeklagten, Gerichtsurteile zu verbreiten, die die Strafkammern der souveränen Republik im Interesse des Staates unter Verschluß hielten! Sammlung staatsgefährdender Nachrichten.
    Terror. (Da er seine Korrespondenz auch gerichtet hatte an die Richter der Landgerichte im Neuen Mecklenburg, sie betroffen zu machen womöglich und einzuschüchtern.)
    Antrag, die Mutter des Angeklagten im Gerichtssaal zu verhaften, wegen Verdachts der Beteiligung. (Gerda Lockenvitz, geb. 1909, Gartenarbeiterin; wegen Vernachlässigung der Erziehungspflicht und aktiver Mitwisserschaft zwei Jahre Z.)
    Das Tatwerkzeug, ein Fahrrad schwedischer (ausländischer!) Herkunft, wird zu Gunsten des Staates eingezogen.
    (Gänzlich unterblieb die Erörterung, wie ein anfangs doch landfremdes Kind herangekommen war an geheime Akten, Prozesse hinter verschlossenen Türen. Die ausführlichen Angaben zum 18. Juni und 20. Juli 1950, zum 6. Dezember 1951, sie waren gefundenes Fressen für ein Kreuzverhör. Allerdings tat das Gericht, als seien die Einzelheiten von Lockenvitz’ einseitigem Briefverkehr jedermann unterhalb der Tribüne unbekannt; und es mochte bedeutet sein, daß dies Kind gesonnen war, seine Quellen auch weiterhin zu beschützen.)
    Frage: Bekennen Sie sich zu Ihrer Feindschaft gegen den ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden?
    Antwort: Ich bekenne mich zur Eindeutigkeit des deutschen und angelsächsischen Genitivs. Ich bekenne mich zu einer Pflege des Rechts auf offenem Markt in Deutschland.
    Fünfzehn Jahre Zuchthaus. Und weil die Sowjets verzichtet hatten auf diesen Einzeltäter, entging ihm die Reise mit

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