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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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dem Blauen Expreß nach Moskau, im angekoppelten Zellenwaggon, getarnt als Gefährt der Deutschen Post. So kam er um das Vorrecht, in Workuta den Bergbau oder in Tajschet die Holzfällerei zu erlernen. So versäumte er die sowjetische Amnestie von 1954, die die Urteile der Militär-Tribunale aufhob. Weil er von einem deutschen Gericht verurteilt war, verbüßte er von seiner Strafe zwei Drittel.
    Im September begann die Fortsetzung der unterbrochenen Korrespondenz:
    Gerhard Dunker, geb. 1929, verh. am 24. Dezember 1951; verurteilt am 17. Juni 1952 durch das Landgericht Güstrow zu acht Jahren Z.  …
    Anfangs wußte die Zwölf A Zwei, wohin Lockenvitz verbracht war: nach Bützow; zwei Schüler der Klasse durften sich eine Arbeit aussuchen für ihn, da er auch mitgeteilt hatte, welche Betriebe Aufträge vergaben in die Strafanstalt:
    V. E. B. Schiffskombinat Rostock,
    V. E. B. Kleiderwerke Güstrow,
    V. E. B. Einheit Kataster, Schwerin,
    V. E. B. (K) Wiko Korbwarenfabrikation Wittenberge,
    V. E. B. Starkstrom-Anlagenbau Rostock,
    Fa. Wiehr und Schacht, Bützow;
    sie hatten eine Ahnung von seinem Speisezettel und durften aus seinen Nachrichten einen Stundenlohn von vierundneunzig Pfennig kalkulieren, der am Ende des Monats, nach Abzug von Steuer und Sozialversicherung und Haftkosten, fünfzehn Mark übrig ließ, gerade ausreichend für zwei Pfund Butter und vier Glas Marmelade; sie wußten den erlaubten Inhalt eines Paketes, das sie ihm manchmal hätten schicken dürfen als Belohnung für gute Führung:
    500 Gramm Fett,
    250 Gramm Käse,
    250 Gramm Speck,
    500 Gramm Wurst,
    500 Gramm Zucker,
    für den Rest der vorgeschriebenen 3 Kilogramm netto:
    Obst, Zwiebeln, Markenkeks in Originalverpackung;
    Anita verlangte solch ein Paket von sich ein einziges Mal, das kam zurück; sie hätte als Absenderin leben sollen unter Lockenvitz’ Jurisdiktion und verwandt sein mit ihm.
    Nach seiner eigenen Kundschafterei konnten wir ihn denken mit einem Haarschnitt von drei Zentimetern Länge, in abgelegtem Drillichzeug der Volkspolizei, beim Grüßen der Wachtmeister durch Abnehmen der Mütze und Blickwendung zwei Meter vor und einen Meter hinter dem vorüber schreitenden Würdenträger, beim Annehmen militärischer Haltung, beim Marschieren im Gleichschritt, beim Schlafen, niemals allein, neben einem Scheißkübel. Den ließen wir allein.
    Haben wir etwa in seinem Schlußwort eine Entschuldigung erwartet wegen unserer zehn Tage Untersuchungshaft? Hörten wir auf Pius, so hatte Lockenvitz glauben dürfen, es sei niemand einvernommen denn er allein. Jakob sagte: Ji möt dat noch liehrn, dat Inspunntsien!
    Nachdem die Verwalter des ostdeutschen Justizwesens Lockenvitz gezüchtigt hatten, vom Sommer 1952 an begannen sie zu zweifeln, ob das heimliche Verhaften und das Verstecken von Bürgern die verschonten unter ihnen genügend einschüchtere. Vielleicht hatten die Bekanntmachungen dieses Oberschülers dazu geholfen, daß die Strafkammern nunmehr ihre Urteile in den Provinzzeitungen veröffentlichten, damit die Abschreckung gedruckt zu lesen sei.
    Oder war uns unheimlich, daß ein Junge von achtzehn Jahren für irgend welche Wahrheit, sei sie eine erwiesene Tatsache, eine Zukunft riskiert, in der er eine Erlaubnis zum Studium hatte denken dürfen und, mit Glück, einen Beruf nach Wahl? Die Erinnerung an Lockenvitz bringt ein geringfügiges Flattern ins Denken; im Dunkeln aufgescheuchte Vögel.
    Aus Gneez bekamen wir geschrieben, seine Mutter sei zurückgekehrt in die Stadt, sobald sie ihre zwei Jahre verbüßt hatte. Sie hat es versucht, in Gneez auf den Sohn zu warten; jener Domprediger, dem Anita aus dem Weg gegangen war bis hin nach Jerichow, er nahm sich die Mühe, von der Kanzel gegen sie zu wettern, mit solchen Worten, wie die Bibel sie anbietet für das Verjagen von Unwürdigen. Es heißt, sie warte im Bayerischen.
    Von 1962 an, wir hätten uns umhören dürfen nach Lockenvitz. Aber seine Mitschülerin Cresspahl zog es vor abzuwarten, ob Anita ihre Drohung von 1952 verkleinern werde: Wenn er je mir über den Weg laufen sollte in der Untergrundbahn und bietet mir einen Sitzplatz an: stehen blieb ich!
    Wir haben ihn im Stich gelassen, den Schüler Lockenvitz. Damit Anita das letzte Wort werde: Schuldig sind wir vor ihm.
    13. August, 1968 Dienstag
    Auf ihrer ersten Seite zeigt die New York Times, wie eine ostdeutsche Delegation in Karlovy Vary begrüßt wird von einer tschechoslowakischen; ohne Umarmung und Küsserei

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